Eine Barkassenfahrt mit Ties Rabe. Abendblatt-Leser stellen Fragen zu Ganztagsschulen, Sitzenbleiben und Zentralabitur.
Hamburg. Auf der Elbe nahm die „Hamburger Deern“ Fahrt auf – und auch die Diskussion der Abendblatt-Leser mit Schulsenator Ties Rabe (SPD). Eine Dokumentation der Fragerunde.
Katja Hemker: Wir haben als Familie ein Problem mit der Starrheit der offenen Ganztagsschule. Die Vorgabe ist, dass die Kinder drei Tage in der Woche ganztags betreut werden. Und jetzt ist die Frage, wie passt das eigentlich zu dem, was in der Familie beruflich notwendig ist? Wie passt das zu dem, was in der Familie an Freizeitaktivitäten geplant ist?
Ties Rabe: Erst einmal, die Teilnahme ist freiwillig. Nun kommt es darauf an, diesen Nachmittag vernünftig zu organisieren. Zum Zweiten ist es aber aus organisatorischen Gründen schwierig, wenn wir ein ständiges Kommen und Gehen ermöglichen. Denn gleichzeitig wünschen sich die Eltern eine Betreuung, die wirklich hochwertig ist. Die Planung sieht vor, dass drei Tage verpflichtend sind bis 16 Uhr, für zwei Tage kann man sich frei entscheiden. Wir haben aus meiner Sicht schon eine recht große Flexibilität erreicht. Wenn sich herausstellt, dass die allermeisten Eltern das Angebot so wahrnehmen, wie es gedacht ist, und nur sehr wenige tatsächlich nur auf zwei Tage angewiesen sind, dann gucken wir uns das System noch einmal an.
+++ Zur Person: Ties Rabe +++
Beate Bromm: Es ist ganz klasse, dass Hamburg den kostenlosen Nachhilfeunterricht eingeführt hat letztes Jahr. Wir haben angefangen, Schüler mit der Note Vier oder Fünf in den Förderunterricht hineinzunehmen. Das wird jetzt begrenzt auf Schüler, die eine Fünf haben. Ich finde das ein bisschen bedauerlich, weil bei einer Fünf schon ziemlich viel im Argen liegt. Warum ermöglichen Sie nicht schon Nachhilfe bei Note Vier?
Rabe: Die Frage hängt viel mit Geld zusammen. Wenn Sie fordern, in Zukunft soll es Nachhilfeunterricht geben ab der Note Vier, dann können wir die Mittel vervierfachen oder verfünffachen, denn eine Vier ist wesentlich häufiger im Zeugnis als eine Fünf. Und es ist auch eine Frage der Perspektive. Hamburg ist das einzige Bundesland, das Nachhilfeunterricht kostenlos in der Schule anbietet. Der Nachhilfeunterricht entstand, weil das Sitzenbleiben abgeschafft worden ist. Man bleibt mit einer Vier noch nicht sitzen. Andererseits: Jede Schule kann selbst vor Ort entscheiden. Wenn die Schule sagt, so viele Fünfer-Kandidaten habe ich nicht, aber ich habe jede Menge „Vierminusse“, so ist es möglich, auch denen zu helfen.
Isabelle Defferrard: Das Sitzenbleiben an Stadtteilschulen und Gymnasien ist abgeschafft. Jugendliche, die ab Klasse 7 nicht mehr mitkommen, können nicht mehr abgeschult werden. Wäre es nicht besser, das Sitzenbleiben wieder einzuführen? Viele Schüler brauchen Druck.
Rabe: Ich bin nicht sicher, ob Druck zum Erfolg führt. Aber im Kern lautet die Frage, ob das Sitzenbleiben etwas bringt. Das glaubt, außer ganz wenigen, niemand. Sämtliche wissenschaftlichen Studien von links bis rechts sind sich einig. Man bleibt in der Regel meistens wegen Englisch oder Mathe sitzen. Und stellen Sie sich vor, deshalb wiederholt man ein ganzes Jahr Musik und Sport. Was für eine Verschwendung!
Kerstin Kleenworth: Durch das Wegfallen des Sitzenbleibens und weil die Kinder und Jugendlichen auch nicht mehr die Schulform wechseln können, vermute ich, dass im übernächsten Jahr, wenn der erste Durchgang der Reform im Abschlussverfahren ist, viele Kinder mit schlechtem oder ganz ohne Abschluss die Schule verlassen. Wäre es also nicht sinnvoller, die Durchlässigkeit wieder herzustellen?
Rabe: Da bin ich auch nachdenklich. Selbstverständlich ist zu erwarten, dass manchmal in Klasse 8 des Gymnasiums klar wird, dass ein Schüler es nicht mehr schafft. Wir haben alleine in den Jahrgängen 5 und 6 jetzt mehr als 650 Kinder, die feststellen, dass das Gymnasium nichts für sie ist. Das sind fast zehn Prozent. Das ist irre! Es kommt hinzu, dass es bei den Kindern jede Menge Leid und Unglück erzeugt, dass es die Leistung deutlich mindert. Nur das Abschulen zu verbieten, bringt gar nichts. Wir müssen dazu kommen, dass nach Klasse 4 die Schulempfehlung ein Stück vernünftiger und realistischer ist – und zwar auf allen Seiten.
Mareile Kirsch: Viele Eltern haben sich seit Jahren gegen den Druck und die Belastung für die Kinder durch das G8 gewehrt. Es gibt auch medizinische Untersuchungen, dass diese Schulzeitverkürzung gesundheitliche Schäden verursacht, dass Kinder Kopfschmerzen, Bauchschmerzen haben. Dürfen Eltern in Hamburg hoffen, dass es die Chance einer Wahlfreiheit zwischen G8 und G9, also zwischen acht und neun Jahren bis zum Abitur, an Gymnasien geben wird?
Rabe: Nein. Das sage ich Ihnen ganz klar. Wir haben in Hamburg eine Struktur, die das bereits bietet. Wir haben G8 an den Gymnasien und wir haben G9 an den Stadtteilschulen. Und wir haben viele Stadtteilschulen, die große Akzeptanz genießen. Wir sollten diese beiden Möglichkeiten, die das Hamburger Schulsystem bietet, hegen und pflegen. Die anderen Bundesländer diskutieren über G9 am Gymnasium nur deshalb, weil sie G9 in alternativen Schulformen selten anbieten können. In Schleswig-Holstein bietet formal zwar die Gemeinschaftsschule G9, aber die meisten haben gar keine Oberstufe. Die Eltern, die dort sagen, ihre Kinder sollen in neun Jahren zum Abitur, haben vielfach gar keine andere Möglichkeit als ein Gymnasium auszusuchen.
Marne Benedetti: Ich finde, das Zentralabitur ist zu überhastet eingeführt worden, zumal Sie die Beteiligten leider so gut wie gar nicht eingebunden haben.
Rabe: Natürlich haben wir bei der Einführung des Zentralabiturs alle Beteiligten einbezogen – sie sagen es nur nachher nicht mehr! Das ist ein Phänomen, das man als Politiker nicht selten erlebt. Im September vergangenen Jahres hatten wir alle Schulleiter eingeladen und gesagt: Wie soll es weitergehen mit dem Abitur? Es gab temperamentvolle Diskussionen, es gab mehrere Folgesitzungen mit den Oberstufenkoordinatoren – am Ende haben sich die Schulleiter der Stadtteilschulen einerseits, aber vor allem der Gymnasien, noch einmal abschließend damit befasst. Es gab sogar eine Abstimmung – und mehr als zwei Drittel haben für das Zentralabitur gestimmt. Ja, und dann habe ich gesagt: Na, das ist doch vernünftig, dann machen wir das – wenn sogar die Praktiker das wollen. Dann ging der Sturm an einigen Schulen los und niemand wusste plötzlich mehr von der Abstimmung. Aber den Vermerk in den Akten über diese Abstimmung, den habe ich noch. Und wenn Sie wollen, schicke ich Ihnen den auch gern zu.
Wolf Achim Wiegand: Ich bin seit Jahren in Elternräten tätig und sitze jetzt auch in der Elternkammer. Ich höre immer wieder, dass Eltern sich darüber beschweren, dass Kinder früher nach Hause kommen, weil der Unterricht ausgefallen ist. Schulleitungen antworten ausweichend. In der Schulbehörde heißt es: Wir haben keine Zahlen. So ist man auf Vermutungen angewiesen. Der Deutsche Lehrerverband geht nach einer Studie davon aus, dass in Deutschland zehn Prozent des Unterrichts nicht regulär erteilt werden. Warum erteilen Sie nicht eine klare Anweisung an die Schulen, die Zahl der Fehlstunden jeden Tag zu melden? Warum nicht eine Vertretungsreserve von acht bis zehn Prozent vorhalten?
Rabe: Erst mal haben Sie recht: Es gibt keine Zahlen über den Unterrichtsausfall. Wir haben eine europaweite Ausschreibung für eine spezielle Computer-Software laufen, mit der alle Ausfälle sofort erhoben werden können. Dann wurde mir gesagt, dass es bis Ende 2013 dauert, ehe die Software laufen wird. Da ist mir der Kragen geplatzt. Ich habe gesagt, dass ich das nicht will. Ich möchte eine robuste, handgestrickte Version, in der man vier Kreuze macht: ersatzlos ausgefallen, von einem anderen Lehrer gegeben, wegen Klassenfahrt oder Ähnlichem ausgefallen und regulär gegeben. Ich habe auch einen klaren Zeitplan vorgegeben. Ich sage Ihnen hiermit zu: In diesem Jahr wird das noch was. Andere Länder können das auch, sogar in Bremen klappt das. Zur Vertretungsreserve muss ich Ihnen sagen: Die gibt es – und zwar nicht zu knapp. Jede Schule hat fünf Prozent mehr Lehrerstunden, als sie rechnerisch braucht.
Beate Czerney, Elternrat Stadtteilschule Goosacker: Jeder Stadtteilschule soll nach Ihren Plänen eine eigenständige Oberstufe zugeordnet werden. Wir haben festgestellt, dass Kinder mit Gymnasialempfehlung gar nicht mehr bei uns angemeldet werden. Was macht die Schulbehörde, um das Abrutschen unseres Standorts zu einer Resteschule zu verhindern?
Rabe: Von den Problemen habe ich gehört. Ich habe die Schulaufsicht, den örtlichen Schulrat und die Schule gebeten nach Wegen zu suchen, die Schule attraktiver zu machen. Dazu zählt auch, dass die Schule eine klare Raumperspektive bekommt. Im Moment stehen da acht Container, das ist auf Dauer nicht schön. Deswegen wird die Schule in ein großes Schulgebäude umziehen.
Susanne Rieschick-Dziabas: Was ist geplant, um die Medienkompetenz der Lehrer zu erhöhen und sie in die Lage zu versetzen, ihren Schülern auf diesem Gebiet etwas beibringen zu können?
Rabe: Ich hatte an meiner Schule als Lehrer plötzlich ein Smartboard an der Wand. Ich halte mich nicht für richtig dösig, aber das war anstrengend und schwierig. Ich habe es geschafft, damit umzugehen, weil es Schulungen für Lehrer gibt. Aber ich habe einen Anspruch aufgegeben: den Anspruch, es so gut zu können wie meine Schüler. Müssen wir auch nicht zwingend. Für Lehrer geht es eher darum, den Schülern im Umgang mit neuen Medien etwas beizubringen – zum Beispiel beim Thema Mobbing. Ich habe damals einen EDV-Beauftragten in meiner Klasse benannt. Die waren fix stolz, die Fünftklässler.
Anita Mertz: Ich bin als Lehrerin von Baden-Württemberg nach Hamburg gezogen. Dort gab es fast keinen Förderunterricht. Jetzt arbeite ich integrativ an der Grundschule Mümmelmannsberg und habe das Gefühl, den Kindern viel mehr beibringen zu können. Warum schneidet Baden-Württemberg in den Pisa-Studien trotzdem besser ab als Hamburg?
Rabe: Die Vorgänger-Regierung hat eine fiese Studie gemacht. Sie hat die Leistungen der Schüler ohne Migrationshintergrund in Baden-Württemberg und Hamburg verglichen. Beide Gruppen haben bei den Pisa-Studien das gleiche Ergebnis. Und auch die Kinder mit Migrationshintergrund sind in beiden Ländern auf dem gleichen Level. Das Problem ist: Wir haben sechs Mal so viele Migrantenkinder in der Schule wie Baden-Württemberg. Wir müssen Wege finden, dass unsere Migranten den Anschluss finden. Das geht zum Beispiel über gemischte Klassen mit zusätzlichen Lehrern am besten.
Rebecca Lilje: Ich bin vor vier Wochen neu nach Hamburg gekommen, nachdem ich vier Jahre an der deutschen Auslandsschule in Singapur gearbeitet habe. Welche Frage haben Sie an mich?
Rabe: Mich interessiert, was Singapur mit den Kindern macht, die als lernschwach gelten. Laut Pisa-Studie ist in Hamburg ein Viertel der Schüler lernschwach.
Rebecca Lilje: Die Voraussetzungen sind unterschiedlich. Singapur hat wenig lernschwache Schüler. Die Schule, an der ich unterrichtet habe, war privat finanziert, sodass wir mehr Förderstunden hatten als eine normale deutsche Schule.
Mitarbeit: Angela Klein; Katharina Tonts