Eine Hamburger Schülerin geht so gut wie nie zur Schule. Ihre Zeugnisse strotzen vor Sechsen. Trotzdem wird sie versetzt. „Wir haben uns gekümmert“, sagen die Lehrer, sagt die Behörde. Warum scheint Vanessas Hartz-IV-Karriere dann dennoch sicher? Protokoll eines Scheiterns.
Grundschule Großlohering, Rahlstedt
Hamburg. September 2001, der erste Schultag: Vanessa trug ein rosa Kleidchen, eine rosa Schultüte und einen rosa Ranzen mit Pferden drauf. Auf ihrem Kopf wippten zwei lange, braune Zöpfe. Die Grundschule am Großlohering, die auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz einst besuchte, ist eine der ältesten integrativen Schulen der Stadt. Heute sagt die grell blondierte Vanessa: „Ich hab’s verschenkt.“
A, B, C – der Anfang war eine Tortur. D, E, F– die Lehrerin zeichnete Buchstaben, doch Vanessa war viel zu müde, um zu lernen. G, H, I – abends hockte sie vor der Glotze, guckte „Traumhochzeit“. J, K, L – niemand schickte sie ins Bett. M, N, O – als andere erste Sätze lasen, konnte Vanessa noch kein Zeichen malen. P, Q, R – manchmal warf sie frustriert alle Stifte durch die Klasse. S, T, U – oder hüpfte durch die Klasse, vergaß die Hausaufgaben. V, W – trat wütend gegen ihren Ranzen. X, Y, Z – und doch war die Grundschule ihre beste Schulzeit.
+++ Das Ende einer Hamburger Schulkarriere +++
In 13 von 27 Schulstunden unterstützte eine Sozialpädagogin den Klassenlehrer. Wenn gar nichts mehr ging, bekam Vanessa Einzelunterricht. Oder durfte auf die „Insel“: ein Raum mit Kuschelecke und Prinzessinnen-Kleidchen.
Das Konzept hat sich bewährt: Von 19 Schülern in einer Klasse sind elf eigentlich Förderkinder. Tatsächlich wechseln nach der vierten Klasse nur zwei Schüler auf die Förderschule – zwei gehen aufs Gymnasium, 15 auf die Stadtteilschule. Direktor Stephan Kufeke ist stolz auf seine Schüler. Jetzt schweigt er bestürzt. Er hält Vanessas Zeugnis in der Hand. Als sie ging, war er noch nicht Schulleiter. Aber trotzdem: Ein Kind ist verloren gegangen.
Gyula Trebitsch Schule, Tonndorf
11. August 2005, wieder ein erster Schultag. Diesmal hatte Vanessa „keinen Bock“. Sie sagt: „Meine Mutter ist schuld.“ Die hatte sie auf der Tonndorfer Haupt- und Realschule angemeldet, weit weg von zu Hause und den Freunden, 20 Minuten dauert die Fahrt mit dem Bus. „In meiner Klasse waren nur Babys, die noch in der Sandkiste spielten“, schimpft Vanessa.
Doch die Babys lernten fleißig, schrieben gute Noten, wurden gelobt. Vanessa hatte keine Freunde, die mit ihr nach Hause kommen wollten — in die Dreizimmer-Sozialwohnung, in der es nach Staub, Rauch und abgestandener Luft müffelt.
5. Klasse, 6. Klasse, 7. Klasse. Hat sie für die Klassenarbeiten gelernt? „Nö, war sowieso nur alles rot, hat mich nicht interessiert.“ Haben die Lehrer geholfen? „Manchmal, aber ich habe nie was kapiert.“ Und die Mutter? „Wenn die keifte, bin ich abgehauen.“ Tagelang war sie weg, da war sie gerade zwölf Jahre alt. Abhauen – ein typischer Start in eine Schwänzer-Karriere.
Vanessas Mutter machte sich zudem zur Komplizin ihrer Tochter. Sie schrieb Entschuldigungen, Vanessa habe Kopfschmerzen. Später besorgte sie Atteste, darin stand etwas von Migräne. Zunächst fiel es niemandem auf. Doch dann wurden die Lehrer aufmerksam – weil sie mussten.
Im März 2005 führte der CDU-Senat in Hamburg den Schulzwang ein. Nachdem am 1. März in Jenfeld die siebenjährige Jessica gestorben war – ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Monatelang hatte das Mädchen in der Schule gefehlt. Seit dem Schulzwang können Polizisten Schwänzer zum Unterricht abführen.
Der Fall Jessica führte auch zu einer „Handreichung zum Umgang mit Schulpflichtverletzungen“. Lehrer müssen nun vor jeder Stunde prüfen, wer fehlt. Liegt keine Entschuldigung vor, muss die Schule noch am selben Tag die Sorgeberechtigten anrufen. Nehmen diese den Hörer nicht ab, muss spätestens am nächsten Tag ein Brief rausgehen. Erreicht der Klassenlehrer nach drei Fehltagen oder 20 versäumten Unterrichtsstunden immer noch niemanden, muss er einen Hausbesuch machen. Und: Versäumtes muss „durch die Erledigung von Sonderaufgaben“ kompensiert werden.
„Das Problem Schulschwänzer bleibt komplett an den Lehrern hängen“, kritisiert Helge Pepperling, Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbands Hamburg. Er sorgt sich um die Arbeitszeiten der Lehrer. Stundenpläne seien so eng gestrickt, dass vormittags keine Zeit bliebe, mit Eltern zu telefonieren. Nachmittags müssten die Lehrer Arbeiten korrigieren und den Unterricht vorbereiten. Pepperling fordert eine Art Guthabenkonto: Zusätzliche Betreuungsstunden für Schwänzer sollen Lehrern im folgenden Schuljahr gutgeschrieben werden, indem sie weniger Unterricht geben müssen.
Dabei sind viele Lehrer froh, wenn die Störenfriede gar nicht erst kommen. Auch so manche Schulleitung, die nicht will, dass Probleme nach außen dringen. So wie an der Gyula Trebitsch Schule. Auf den Fall Vanessa angesprochen, heißt es kühl: Der Fall habe mit der Schule nichts zu tun. Man hat und hatte angeblich nie Dauerschwänzer.
Ein Mitarbeiter der Schulbehörde darf eigentlich nicht mit dem Abendblatt sprechen, doch er erzählt trotzdem die Geschichte von der Mutter, die vor den Ferien vor ihm saß. Ihr Sohn besuchte die 8. Klasse eines Gymnasiums. Als er absackte und schwänzte, wurde sie nicht informiert. Beim zweiten Anlauf schaffte der Junge die neunte Klasse nicht, trotzdem wurde er in die zehnte gehievt. Jetzt hat er keinen Abschluss. Warum erlaubt ein Schulleiter so etwas? „Weil von der Zahl der Schüler die Zahl der Lehrer abhängt, die jede Schule bekommt,“ sagt der Mann aus der Behörde.
Lehrerverbandschef Pepperling sagt: „Schulschwänzen ist ein Problem, aber die Schulleiter halten es unter der Decke, weil sie nicht wissen, woher sie die Ressourcen nehmen sollen. Es ergibt in der Öffentlichkeit kein gutes Bild, ein Problem zu benennen und dann nichts zu dessen Lösung zu tun. Lieber lässt man es so aussehen, als würde für alle regelmäßiger Schulbetrieb stattfinden.“
+++ Der Hamburger Schulschwänzer-Report +++
Das System hat den Schulen das Vertuschen leicht gemacht. An 80 Stadtteilschulen kümmern sich Sozialpädagogen um Schwänzer. Sie mussten ihre Schwänzer-Fälle bis zu diesem Jahr nicht melden – die offizielle Statistik der Schulbehörde war unseriös. Ein Klassenlehrer muss auch nicht die Zahl seiner Hausbesuche notieren, Zwangszuführungen zum Unterricht durch Polizisten werden ebenfalls nicht erfasst.
Der Hamburger Kriminologie-Professor Peter Wetzels hat 3980 Schüler und 162 Lehrer aus Hamburg für eine Studie befragt. Anonym, nur so konnten ehrliche Antworten herauskommen. Ergebnis: Nur 64 Prozent der Lehrer überprüfen die Anwesenheit jedes Schülers in der ersten Unterrichtsstunde, in den Folgestunden checken nur 27 Prozent der Lehrer immer die Anwesenheit. Lehrer schludern beim Führen des Klassenbuchs, Anrufe bei den Eltern und Hausbesuche bleiben häufig aus.
Die Wissenschaftler fragten auch danach, wie viele Schüler schwänzen. Mit dem Ergebnis, dass die Schüler doppelt so viele Schwänzer angaben wie ihre Lehrer. Schlussfolgerung der Studie: „Wenn die Lehrkräfte nur etwa die Hälfte der Schwänzer überhaupt erkennen, dann ist zu erwarten, dass auch der Anteil an Schulschwänzern, für die das Schwänzen überhaupt keine Konsequenzen hatte, recht groß ist.“
Auch Vanessa wurde erst eine Zahl in der Statistik, als ihre Schule die „regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen“ (Rebus) einschaltete. Das war am 17. Dezember 2008 – drei Jahre, vier Monate und sechs Tage, nachdem sie auf die Tonndorfer Schule gewechselt war und dort das Schwänzen lernte.
Rebus wird von Schulen eingeschaltet, die über keine eigenen Sozialpädagogen verfügen – oder wenn diese nicht mehr weiter wissen. In 14 Beratungsstellen arbeiten insgesamt 200 Psychologen, Lehrer und Sozialpädagogen, die gemeinsam mit dem Schüler, den Lehrern, Mitarbeitern des Jugendamtes und den Eltern Lösungen suchen. Drei Monate haben sie dafür Zeit.
Die Mitarbeiterin von Rebus Wandsbek-Süd versuchte vergeblich, Vanessas Mutter zu erreichen. Am 4. Februar 2009 klappte schließlich ein Hausbesuch. Mutter und Tochter gaben zu Protokoll, dass Vanessa sich an ihrer Schule sehr unwohl fühle. Rebus reagierte: Am 10. Februar wechselte Vanessa auf die Ganztagsschule Neurahlstedt. Am gleichen Tag informierte die Mitarbeiterin von Rebus das zuständige Jugendamt. Durch den Schulwechsel war Carl-Georg Baer von Rebus Nord-Ost zuständig. Es gab eine Übergabe, aber keine Akte. Die typische Lücke, wenn ein Schulschwänzer den Bezirk wechselt. Das Mädchen versprach dem neuen Betreuer: „Ich werde mich bessern, Ehrenwort.“ Baer glaubte ihr erst einmal.
Ganztagsschule Neurahlstedt
Vanessa, bald 15, besserte sich nicht. Mehrmals klingelten morgens Streifenbeamte an der Tür. Vanessa schickte sie einfach weg. „Zwangszuführungen“ sind umstritten. Es gibt einen Fall, der sich irgendwo in Deutschland ereignete: Ein Mädchen nahm sich das Leben, nachdem Polizisten bei ihr geklingelt hatten. Außerdem ist der Einsatz bürokratisch aufwendig. Deshalb schauen die Beamten häufig nur bei Schwänzern vorbei – in der Hoffnung, dass ihre Uniform Eindruck macht. Gerade mal 21 „Hausbesuche wegen anhaltender Schulpflichtverletzungen“ gab es im vergangenen Schuljahr. In ganz Hamburg. Im Fall Vanessa ging das Spielchen weiter.
März 2009: Auszug aus dem Protokoll der pädagogischen Klassenkonferenz: „Vanessa stört den Unterricht,“ „mischt die Klasse auf“, „erpresst Arbeitsergebnisse“, „fehlt regelmäßig mit Attest“, „hört weder auf die Anweisungen der Lehrer noch auf die der Schulleitung“, „drohendes Schulversagen“.
April 2009: Die Schule konnte die Mutter nicht erreichen. Ein Brief ging raus.
Mai 2009: Die Mutter erschien nicht zum Gespräch.
Juni 2009: Die Sozialpädagogin der Schule notierte nach einem Hausbesuch um 13.30 Uhr: „Wir hatten den Eindruck, dass die Familie gerade erst aufgestanden war ... Vanessa sagt, so früh könne sie nicht aufstehen. Ihre Mutter fügt noch hinzu, dass Vanessa in der letzten Nacht um 3 Uhr morgens noch telefoniert habe ...“
Am nächsten Tag kam Vanessa in die Schule. Ein paar Tage später schon wieder nicht mehr. Wie es war, wenn sie da war, schrieb ihre Klassenlehrerin in die Akte: „Vanessa telefoniert den ganzen Vormittag im Unterricht, schaltete ihr Handy einfach nicht aus ... Unterricht ist nicht mehr möglich ... “
Die Lehrerin bat wieder Carl-Georg Baer von Rebus um Hilfe. Der schickte zunächst eine routinemäßige Meldung zum Jugendamt. Das muss er jedes Mal tun, wenn die Schule sich meldet und Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht. Wieder eine Aktennotiz, wieder passierte nichts. Auch, weil das Kindeswohl offenbar nicht gefährdet war: Vanessa war immer gut gekleidet, gut ernährt. Es gab keine Hinweise auf Verwahrlosung, steht in der Rebus-Akte. Obwohl aus den Unterlagen ebenfalls hervorgeht, dass die Mutter nicht in der Lage sei, ihre Tochter zu erziehen – eigentlich auch eine Form der Kindeswohlgefährdung. Das Jugendamt bot der Familie Hilfe an. Vanessa und ihre Mutter lehnten ab.
Februar 2010: Baer riet Vanessa, besser ein Praktikum zu machen, als weiter zur Schule zu gehen. Sie tat weder das eine noch das andere.
März 2010: Baer bot Vanessa Einzelunterricht an, zeigte sie gleichzeitig in der Rechtsabteilung des Schulamtes an.
Mai 2010: Vanessa schwänzte auch den Einzelunterricht. Sie erhielt einen Bußgeldbescheid über 75 Euro wegen Schwänzens. Als sie nicht zahlte, kam eine Mahnung: 125 Euro. Als sie sich wieder nicht meldete, kam eine Vorladung vom Gericht.
Damit hat Vanessa alle Eskalationsstufen durchlaufen, die die Stadt für Schulschwänzer vorsieht. Ihr Gerichtstermin war Ende 2010. Die Richterin fragte: „Warum gehst du nicht zur Schule?“ – „Weil ich keinen Bock habe.“
Vanessa sollte sechs Stunden bei einem Pflegedienst arbeiten. Sie schwänzte den Dienst, wurde erneut geladen. Die Richterin verhängte Beugearrest. Bis zu eine Woche können Schulschwänzer wegen ihrer Ordnungswidrigkeit in Arrest kommen – das Wegsperren als letzte Konsequenz.
+++ Schulschwänzer: Opposition kritisiert den Senat +++
Seit zwei Jahren versucht die Schulbehörde, über Bußgelder und Arrest massiv Druck auf Schulschwänzer auszuüben. Das belegen aktuelle Zahlen, die dem Abendblatt vorliegen: Verschickte die Behörde im Jahr 2007 lediglich 399 Bußgeldbescheide, verdoppelte sich die Zahl im vergangenen Schuljahr auf 798. Und während Schulsünder in der Vergangenheit oft durchkamen, wenn sie das Geld nicht überwiesen, landen sie jetzt immer häufiger im Beugearrest. Noch im Jahr 2006 schickten die Richter lediglich drei Jugendliche in die Jugendarrestanstalt auf Hahnöfersand. 2009 waren es 13. Im Jahr 2010 schnellte die Zahl auf 86 hoch – und im Jahr 2011 auf 132.
Woher kommt die neue Härte? Früher bat die Schulbehörde eher die Eltern von Schwänzern zur Kasse – offenbar erfolglos. Jetzt sollen Jugendliche ab 14 Jahren selbst zahlen. Mittlerweile fackelt die Rechtsabteilung der Behörde auch nicht mehr lange und schickt Bescheide schon nach wenigen geschwänzten Tagen raus – in der Hoffnung, dass die Schwänzer kooperieren.
David Heldmann ist seit März Jugendrichter am Amtsgericht Harburg und gleichzeitig Leiter der Jugendarrestanstalt Hahnöfersand. Er hat Vanessa nie kennen gelernt. Aber er handelt ähnlich wie die Richterin, mit der das Mädchen sprach. Er hört sich die Probleme an, mahnt, droht mit Arrest. „Die meisten verstehen dann, dass es ernst wird“, sagt Heldmann.
Doch es gibt Abgebrühte, die nicht nur die Vorladung, sondern auch den Arrest schwänzen. Sie kommen auf die interne Fahndungsliste der Polizei. Die Polizisten greifen sie auf und bringen sie in die Anstalt am nördlichen Rand der Elbinsel.
Die Jugendarrestanstalt liegt getrennt von der Jugendstrafanstalt, in der Mörder, Totschläger und Drogendealer einsitzen. 20 winzige Räume gibt es – 14 für Jungen, sechs für Mädchen. Darin: ein Gitterbett mit Plastikmatratze, ein Schreibtisch, ein Schrank, ein Radiowecker, ein Klo, ein Waschbecken. Handys werden eingezogen, Internet gibt es nicht.
Morgens um 6.30 Uhr werden die Jugendlichen geweckt, danach müssen sie ihr Zimmer aufräumen – viele von ihnen haben dies noch nie gemacht. Nach dem Frühstück werden Arbeitsaufgaben verteilt – Rasen mähen, Putzen, Unkraut jäten. Um 11.30 Uhr gibt es Mittagessen, danach werden die Jugendlichen wieder in ihre Zellen gesperrt. Von 14 bis 15 Uhr „Aufenthalt im Freien“, danach Gruppenarbeit, eine „Freistunde“, Abendbrot. Um 19 Uhr ist „Einschluss“, ab 22 Uhr herrscht Nachtruhe.
„Wir vollziehen hier keine Sanktionen, wir arbeiten erzieherisch“, sagt Heldmann. „Das geht bei bestimmten Jugendlichen nur in einem geschlossenen Bereich, da man sie sonst kaum zu fassen bekommt.“ Einmal in der Woche führt eine Mitarbeiterin der Schulbehörde Einzelgespräche und versucht in Zusammenarbeit mit Rebus, die Schwänzer wieder zum Schulbesuch zu bewegen. Eine Alkohol- und Drogen- sowie eine Schuldenberatung existiert ebenfalls.
Heldmann erzählt vom Katzenprojekt: Einige Jungs zimmern für streunende Katzen Holzhäuschen, andere kümmern sich nun ums Füttern. Zu anderen Jugendlichen bekommen die Beamten Zugang, indem sie mit ihnen Laufen gehen, Tischtennis spielen oder Modellschiffe basteln.
Die Arrestanstalt arbeitet auch mit einem Lern- und Entspannungstrainer zusammen, der Wochenendseminare gibt. Er bittet die Jugendlichen dann, die Augen zu schließen – dann fragt er sie nach ihren Träumen und Zielen. Sie sollen verstehen, dass es an ihnen ist, sich zu bessern. Am Ende bekommen sie eine Teilnahmebestätigung für den Workshop und ein „Wow-Buch“ – darin sollen sie ihre Erfolge eintragen. Denn Erfolg macht süchtig.
Letzten Endes aber sind all diese Hilfsangebote freiwillig. Wer sich verweigert, bleibt auf der Zelle und sitzt seine Zeit einfach ab.
Außerdem haben viele Schwänzer das System durchschaut: Sie können sich die Erziehung hinter Gittern ersparen, wenn sie das Bußgeld noch in letzter Sekunde auftreiben. So kam es, dass im Jahr 2010 nur 25 von 86 zum Arrest verdonnerten Schwänzern tatsächlich nach Hahnöfersand mussten. Im vergangen Jahr waren es 41 von 132. Auch Vanessa war nie im Jugendarrest. Weil sie ihr Bußgeld am Ende doch zahlte.
Der Erziehungswissenschaftler Joachim Schwohl von der Universität Hamburg hält nichts von Bußgeldern und Jugendarrest. „Lernen funktioniert nur dann, wenn die Schüler bereit sind, sich auf die Lerninhalte einzulassen. Das klappt nicht über Zwang“, sagt er.
Die Lösung befinde sich in der Schule: Lehrer sollten individuell auf die Schüler und ihre Lernbedürfnisse eingehen. In jeder Grundschulklasse sollten deshalb zwei Lehrer unterrichten, damit Frontalunterricht zur Ausnahme wird.
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Durch individuelles Lernen würden auch Geschichten wie die jenes Hamburger Schwänzers, der sich nach intensiver Betreuung durch Rebus in die Schule zurückgewagt hatte, der Vergangenheit angehören: Der Mathe-Lehrer ließ prompt eine Arbeit schreiben. Der Schüler versagte und war so gefrustet, dass er wieder wegblieb.
Auch Birgit Herz, Professorin am Institut für Sonderpädagogik der Uni Hannover, fordert: Schule muss sich ändern. Sie nennt gern Beispiele von Schülern, die in Vereinen mitarbeiten und erfahren: Hier bin ich gut. Oder bei einer Firma ein Praktikum machen und merken: Das macht Spaß. „Die Politik sollte Schulen eine größere Autonomie zugestehen, damit sie eigene pädagogische Programme entwickeln können“, sagt Herz.
Hamburg besitzt solche Vorzeigeprojekte. 160 Kinder, die es in der Schule nicht mehr packen, dürfen jetzt anderswo lernen – und zupacken: Tiere pflegen, Möbel bauen, in Sportvereinen kicken. 1,4 Millionen Euro lässt sich das die Stadt jährlich kosten. In Billstedt kümmern sich etwa im Rahmen des Projekts „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ zwei Lehrer, eine Sozialpädagogin, jeweils ein Mitarbeiter von Rebus und dem Jugendamt um zehn Schwänzer. In erster Linie sollen die Jungs und Mädchen in ihren Schulen bleiben, unterstützt von den Projektmitarbeitern. Wenn die Jugendlichen ihre Ziele nicht erreichen, bekommen sie Unterricht bei Rebus. Auf dem Stundenplan stehen neben Mathe und Englisch auch „Schlagzeug“ oder „Kiosk“ und nebenbei gibt es Tipps in Sachen Benimm: „Ich komme pünktlich.“ „Ich nehme die Mütze ab.“ Achtmal gibt es dieses von der EU unterstützte Projekt in Hamburg.
Ein anderes Beispiel: das Tierpatenprojekt auf einem Hof in Iserbrook. Schwänzer wie Max und Frederic, Steven und Jörg erscheinen plötzlich pünktlich, kuscheln mit den Tieren, füttern sie, reinigen die Ställe und stellen Fragen. Max weiß mittlerweile alles über Schildkröten und Steven schrieb sogar ein Referat über den Stör. Das böse Wort Schule fällt nie. Und doch ist Steven irgendwann dahin zurückgegangen. Er schaffte den „Haupt“ und will jetzt sogar den „Real“ wagen. In anderen Projekten können Schwänzer sogar wohnen: in der „Pontonschule am Hafen“ etwa oder bei „Comeback“ im Rauhen Haus.
Doch sind 160 Plätze genug? Ja, sagt Rebus- Chef Thomas Juhl, gleichzeitig Leiter von Rebus Billstedt. „Das Angebot regelt in diesem Fall die Nachfrage: Hätten wir 500 Plätze, würden auch 500 Plätze nachgefragt. Jede Schule ist froh, wenn sie ein Problem weniger hat.“ Die Lehrer sollen ihre Problemfälle schließlich nicht abschieben, sondern selbst betreuen. Juhl sagt aber auch, dass bei tatsächlichem Bedarf mehr Plätze geschaffen werden können.
Er hat in Billstedt für besonders schwierige Neuntklässler eine ausgegliederte Schulklasse eingerichtet. Dort üben sie das normale Leben – in kleinen Lerngruppen oder bei einem Praktikum. Doch das ist längst nicht in allen Stadtteilen so. Manche Mitarbeiter sehen nicht ein, warum sie morgens Schüler wecken sollen, damit diese zur Schule gehen – die Schwachstelle im System Rebus.
Vanessa lebt in Rahlstedt, hier läuft keines der acht Vorzeigeprojekte, hier gab es keine „zweite Chance“ für sie. Rebus-Mitarbeiter Carl-Georg Baer hat ihre Zeugnisse mit den Sechsen nie gesehen, auch nicht die aus der 5. und 6. Klasse. Er hätte ihre Noten an der Schule einsehen können, hat er aber nicht. Baer hätte das Mädchen aber ohnehin nicht an eines der Projekte in anderen Stadtteilen weiterempfohlen. „Es hätte keinen Sinn gehabt“, sagt er. „Sie war so lustlos, so unzuverlässig. Ihre Mutter hat uns nicht unterstützt.“
Staatliche Gewerbeschule G 20, Bergedorf
August 2010, wieder ein erster Schultag. Mit dem Wechsel auf die Berufsvorbereitungsschule war der Fall Vanessa für Rebus erledigt. Ihre vorige Schule hatte ihr noch ein Abschlusszeugnis mit auf den Weg gegeben. Wie üblich: alles Sechsen.
Der Hauptschulabschluss – unerreichbar. Nicht nur für Vanessa: 1020 junge Menschen wurden im Schuljahr 2010/2011 ohne Abschluss entlassen, sieben Prozent der Abgänger.
„Vanessa war anfangs hochmotiviert“, sagt Hinrich Reumann, ihr Lehrer an der G 20. Drei Tage Praktikum im Betrieb, zwei Tage Schule – hält ein Schüler ein Jahr durch, ergibt sich daraus manchmal ein Job. Viele scheitern jedoch: „Was Schüler in neun Jahren nicht gelernt haben, können sie hier nicht schnell in zwei Jahren nachholen“, sagt Reumann. Von 3300 Jugendlichen, die 2011 in Hamburg in die Berufsvorbereitung gingen, schafften gerade mal 307 den Hauptschulabschluss.
Die Lage wird sich nicht bessern. Ab diesem Schuljahr sollen behinderte und nichtbehinderte Kinder gleiche Chancen haben und überall in Hamburg am normalen Unterricht teilnehmen. Die „Inklusion“, eine EU-Richtlinie, 2010 ins Hamburger Schulgesetz aufgenommen, wird nun flächendeckend umgesetzt. Auch wenn keiner weiß, wie „Lernen“ funktionieren kann, wenn künftig in allen Klassen Förderkinder wie Vanessa sitzen. Wenn sich ein Lehrer zusätzlich um Kinder kümmern muss, die sich nicht konzentrieren können, Wutanfälle bekommen oder in den Tag träumen.
Hamburger Schüler-, Eltern- und Lehrerverbände fordern mehr Personal. Doch das kostet Geld, rund 34,6 Millionen Euro im Jahr zusätzlich, wie die Bertelsmann Stiftung errechnete. Doch Schulsenator Rabe hat das Geld nicht.
Weshalb Stephan Kufeke, der Direktor von Vanessas ehemaliger Grundschule, künftig einen Teil seines Förderpersonals an andere Schulen abgeben muss. So wie jede der 36 Modellschulen, die schon seit den 90er-Jahren integrierten Unterricht umsetzen. Ab 2015 steht im Großlohering dann eine Lehrerin fast immer allein vor der Klasse — nur noch in jeder vierten statt jeder zweiten Stunde gibt es Hilfe.
Ab diesem Schuljahr will die Behörde zumindest gegen Schulschwänzer härter durchgreifen. Die Schulbehörde hat die „Handreichung zum Umgang mit Schulpflichtverletzungen“ überarbeitet, die neue Version wird den Schulen in den kommenden Tagen zugestellt. Die Lehrer werden ermahnt, die Einhaltung der Schulpflicht zu kontrollieren. Sie bekommen erläutert, welche Zwangsmittel es gegen Schwänzer gibt. Eine Checkliste gibt ihnen vor, wie sie im konkreten Fall handeln sollen.
Die auffälligste Änderung betrifft jedoch die Arbeit der Schulen und von Rebus: Denn diejenigen, die bislang Schulschwänzer kontrollieren sollten, werden jetzt selbst kontrolliert. Mitarbeiter der Schulaufsicht müssen eingeschaltet werden, wenn ein Schüler 20 Stunden oder drei Tage geschwänzt hat – und den Lehrern, Schulleitern und Beratern auf die Finger schauen.
Schulsenator Ties Rabe erklärt: „Schulschwänzen ist keine Kleinigkeit, sondern führt viel zu oft zu Schulversagen, Schulabbruch, Jugendarbeitslosigkeit und unglücklichen Lebensläufen. Deshalb nehmen wir das Problem sehr ernst und bekämpfen das Schulschwänzen energisch. Wir werden weiterhin daran arbeiten, dass die Schulen das Problem aufmerksam beachten, sorgfältig die Anwesenheit der Kinder und Jugendlichen kontrollieren und sofort handeln, wenn es Anzeichen von Schulschwänzen gibt.“
Alle, die mit dem Fall Vanessa zu tun hatten, sagen: Wir haben uns gekümmert. Tatsächlich haben alle ihren Abstieg auf vielen Seiten genau dokumentiert. Geholfen hat es wenig.
Vanessa hat es letztlich auch an der Gewerbeschule G 20 nicht geschafft. Dabei fing alles gut an: Sie ergatterte ein Praktikum in einem Friseursalon. Doch schon nach vier Wochen warf sie der Meister raus: Sie war zweimal zu spät gekommen und hatte sich auch wieder krank gemeldet. Als sie darüber hinaus Streit mit einer Auszubildenden anfing, war es aus. Dabei sei Vanessa fachlich gut gewesen, lobt ihr ehemaliger Chef.
Es ist Sommer geworden. Vanessa macht jetzt – nichts. Manchmal denkt sie über ihre Zukunft nach. Irgendwie braucht sie doch den Hauptschulabschluss, das hat sie mittlerweile eingesehen. Zu spät. „Vielleicht kann ich Kosmetikerin werden? Oder Soldatin?“ Sie schweigt. Wer nimmt schon eine Schwänzerin, die ein Zeugnis hat, in dem hinter jedem Fach eine Sechs, Ungenügend, steht?
Vanessa ist nur noch zweimal in die Schule gekommen. Einmal fragte ein Lehrer: „Wer bist du denn?“ Dem sagte sie dann, er sei ein „Arsch“. Danach holte sie noch einmal eine Bescheinigung für das Kindergeld ab. Ihr letzter Schultag war am 20. Juni, vor den Sommerferien. Vanessa hat ihn geschwänzt.