Vanessa, 17, verlässt die Schule ohne Abschluss - weil sie jahrelang schwänzte. Und weil Lehrer, Schulen und Behörden versagten.

Hamburg. Eine morsche Parkbank, eine rostige Wippe, ein Sandkasten voller Kot – Vanessa (Name geändert) hat den Treffpunkt vorgeschlagen. Es ist ein Abend im Frühling. Hier, auf dem Spielplatz zwischen Rahlstedter Plattenbauten, befindet sich Vanessas Rückzugsort. Hier trifft sie sich mit Freundinnen, wenn die Mutter wieder säuft. Hier hat sie früher „gechillt“, als die Mutter noch glaubte, sie sei im Unterricht. Inzwischen macht sie ihr nichts mehr vor – seit fast vier Jahren bleibt die 17-Jährige morgens im Bett.

Trotzdem hat sie Stress: Zum ersten Mal in ihrem Leben macht ein Lehrer Ernst. Der „Arsch“ droht ihr mit Knast, weil sie nicht zur Schule kommt. Knast, wo schon eine Freundin gesessen hat, weil sie „keinen Bock“ mehr auf Schule hatte. Und der „Arsch“ will ihr auch den „Haupt“ nicht geben, den Hauptschulabschluss.

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Vanessa hockt auf der Rückenlehne der Bank, reißt grüne Lackfetzen vom Holz und sagt: „Ich hab’s verkackt.“ Vanessa hat elf Jahre die Schule besucht. Sie kann kaum Malnehmen oder Teilen, kaum einen Satz ohne Fehler schreiben. Sie hätte intensiv gefördert werden müssen. Doch so funktioniert das Schulsystem nicht.

Wie es in Hamburg läuft, zeigt ein Blick in das Zeugnis der damals 14-Jährigen aus dem Schuljahr 2008/2009: sieben Sechsen, zwei Fünfen. Unter „Versäumnisse“ sind aufgelistet: 60 Tage, davon 33 unentschuldigt, plus 44 Stunden, alle unentschuldigt. Hinter dem „Vermerk zur Schullaufbahn“ steht: „Versetzt nach Klasse 8“. Die Lehrer haben das Mädchen, das ohne Vater aufwuchs und eine alkoholkranke Mutter hat, offenbar weiterbefördert, wegbefördert und sich dann gewundert, dass es nichts mehr verstand, den Unterricht störte und schließlich gar nicht mehr kam. So ist Vanessa durch ihre ganze Schulzeit gekommen. Alle haben es gewusst: die Mutter, Lehrer, Schulleiter, Psychologen, Sozialarbeiter, Ärzte, Angestellte des Schulamts, Mitarbeiter der sozialen Dienste.

Ein riesiger Erziehungsapparat hat versagt. Die Zahl der Schwänzer in Hamburg steigt generell: Allein im ersten Quartal dieses Jahres verstießen 416 Schwänzer gegen die Schulpflicht, teilt die Schulbehörde mit. Rechnet man die Zahl auf ein ganzes Schuljahr hoch, sind das deutlich mehr als im Schuljahr 2010/2011. Da meldeten die Schulen der Behörde insgesamt 1117 Fälle. Doch in dieser Statistik fehlten die Schwänzer-Zahlen aller 80 Stadtteilschulen mit 62.000 Schülerinnen und Schülern. Erst seit Januar dieses Jahres müssen auch sie alle Drückeberger angeben. Die Dunkelziffer ist trotzdem hoch.

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Dabei dürfte es in Hamburg eigentlich gar keine Schwänzer geben. Die Hansestadt gehört zu den Bundesländern, in denen die strengsten Richtlinien gegen Schulverweigerer gelten. Die Politik wurde immer dann tätig, wenn es Fälle gab, die Hamburg bundesweit in ein schlechtes Licht rückten, wenn Namen zu Synonymen des Versagens wurden: Jessica 2005 oder zuletzt Chantal. Nirgendwo in Deutschland wurden in Sachen Schulschwänzer in den vergangenen zehn Jahren mehr Regeln aufgestellt, mehr Programme aufgelegt – besonders bockige Jungen und Mädchen landen am Ende sogar in der Jugendarrestanstalt auf der Elbinsel Hahnöfersand.

Auch am Geld kann es nicht liegen: Rund 1,5 Milliarden Euro gibt die Hansestadt für ihre 240.000 Schüler jedes Jahr aus. Das sind 6200 Euro pro Kopf — 1100 Euro mehr als im Durchschnitt der Länder. In den Pisa-Studien hat sich das jedoch nicht in großen Erfolgen widergespiegelt. Und die Wirklichkeit heißt Vanessa.

Fast alle Kinder, die irgendwann nicht mehr zur Schule gehen, kommen aus einem schwierigen Elternhaus. Oft sind es Kinder alleinerziehender Mütter, die selbst die Schule abgebrochen haben. Oder Kinder aus gewalttätigen Elternhäusern, manche Schüler sind psychisch krank. Wenn sie dann auch noch in der Schule Probleme bekommen, machen sie das, was sie gut können: auf der Playstation daddeln, mit Freunden abhängen oder Leute „abziehen“. In der Regel sind es Haupt- und Realschüler – und meist entgleiten sie in der Pubertät: ab der siebten Klasse, wenn es in der Schule schwerer und mit den Freundschaften schwieriger wird, wenn es zu Hause nur noch Zoff gibt.

„Je massiver ein Jugendlicher schwänzt, desto höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass er strafrechtlich auffällig wird“, sagt der Hamburger Kriminologie-Professor Peter Wetzels. Die Wahrscheinlichkeit, Gewalttäter zu werden, ist bei Dauerschwänzern sechsmal so hoch wie bei Nichtschwänzern.

Dabei will eigentlich jedes Kind lernen. Die Lehrer können aber nicht auf die warten, die ständig hinterherhinken, sie haben nicht genug Zeit, den Stoff wieder und wieder zu erklären und zusätzlich noch Familienkonflikte zu lösen. Häufig sind sie froh, wenn Störenfriede nicht im Unterricht auftauchen – und melden die Abwesenheit nicht. Die Schulleiter wiederum vertuschen diese Fälle, weil Probleme schlecht für den Ruf ihrer Schule sind. Und die Politiker entwickeln immer neue Sanktionen gegen Schwänzer, allerdings erfolglos. Wissenschaftler wissen warum: weil man die, die nichts mehr kapieren und frustriert aufgeben, nicht mit Strafen und normalem Unterricht locken kann. Weil Prävention schon in der Grundschule stattfinden muss.

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Unterdessen beschließen die Politiker eine Reform nach der anderen. Ab diesem Schuljahr gilt in der Hansestadt etwa die „Inklusion“: Hamburg und Bremen setzen als erste Bundesländer eine EU-Richtlinie flächendeckend um, die vorsieht, dass alle behinderten und nicht behinderten Kinder gleiche Chancen haben und überall am normalen Unterricht teilnehmen sollen. Im Prinzip gut. Doch wie soll das gehen, wenn Lehrer schon jetzt mit Zappelkindern, Raufbolden, Trödlern und Träumern überfordert sind? Wenn außerdem jenen Schulen, die sich um intensive Betreuung bemühen, die Mittel gekürzt werden? Hinzu kommt, dass Hamburger Schüler seit dem vergangenen Jahr auch nicht mehr sitzen bleiben können. 21 Millionen Euro spart Schulsenator Ties Rabe damit im Jahr. Zwar will der Politiker, selbst Lehrer, mit dem Geld jene fördern, die es eigentlich nicht geschafft hätten. Für einzelne Schulen bedeutet das: Jede Klasse bekommt zwei Förderstunden pro Woche mehr Unterricht. Zu wenig Hilfe für die, die ohnehin nicht mehr zuhören, weil sie nichts mehr verstehen.

Will die Politik hinnehmen, dass Schüler nur noch durchs System geschleift werden, egal wie – zur Not auch ohne Abschluss? Das ist die Frage, die der Fall Vanessa aufwirft. Die SPD von Bürgermeister Olaf Scholz zog 2011 mit dem Versprechen in den Wahlkampf, dass kein Hamburger Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen soll.

Die Zahl der Schulschwänzer wird vermutlich weiter steigen. Und damit auch die Zahl derer, die keinen Abschluss erhalten – und wenig Aussicht auf einen Job haben. Junge Menschen, die Hartz IV beziehen und mit millionenschweren Förderprogrammen verwaltet werden. Wie Vanessa. Als sie die Gesamtschule verließ, stand auf ihrem Abgangszeugnis eine Drei, in Kunst. Der Rest waren Sechsen.