Nach der Fehlkalkulation der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg suchen sie die Schuldigen und sprechen von einer Katastrophe.
Hamburg. In die Praxis von Dr. Jürgen Stieh in Wilhelmsburg wird vorerst keine weitere Kinderärztin einziehen. Auch die Türkisch sprechende Verstärkung für die bisher acht Helferinnen ist erst mal gestrichen. "Denn irgendwo muss das Geld herkommen", sagt der Kinderarzt. Wie berichtet, müssen alle Hamburger Vertragsärzte in diesem Jahr rund 61 Millionen Euro einsparen. Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg (KVH) hatte im vergangenen Jahr jedem Arzt rund 15.000 Euro Honorar zu viel überwiesen.
Die eklatante Fehlkalkulation der KVH sei in erster Linie "eine Panne der Bundesvereinigung", sagt Stieh. "In letzter Konsequenz sehe ich die Schuld sogar bei den Politikern, die jedes Vierteljahr neue Richtlinien auf den Weg bringen, um sie kurz darauf wieder zu verwerfen." Das Nachsehen hätten dabei die Ärzte - und die Patienten. "Für mehr als 200 000 Euro habe ich gerade erst meine Praxis renoviert und ein neues Ultraschallgerät angeschafft", sagt der 50-Jährige. Auch zahlreiche andere der insgesamt 4210 Hamburger Vertragsärzte ärgern sich über die Panne der Kassenärztlichen Vereinigung. "Dieser Vorfall reiht sich ein in eine Kaskade von Irrtümern", sagt ein Allgemeinmediziner, der anonym bleiben möchte, dessen Name der Redaktion aber bekannt ist. "Es ist ein Beispiel dafür, dass diese Vereinigung nicht funktioniert." Er könne sich in den vergangenen Quartalen an keine Abrechnung erinnern, die fehlerlos gewesen wäre. Ständig müsse er bei der KVH Widerspruch einlegen, manchmal bekomme er keine Abrechnung zugeschickt.
"Die Honorare gehen seit Jahren zurück, von dem Einnahmeplus habe ich hier an der Basis ohnehin nichts gemerkt", sagt Dr. Jan Lüders, Orthopäde aus Hamburg-Rissen. 90 Prozent seiner Patienten seien Kassenpatienten. Das Honorar, das er für ihre Behandlung bekomme, sei zwischen 2008 und 2010 um 30 Prozent gesunken. "Wenn die Honorare jetzt wegen der Fehlkalkulation weiter zurückgehen, ist das eine Katastrophe." Sollten die Honorare noch weiter fallen, müsse er als Konsequenz seine Praxis schließen. Die Ärztekammer Hamburg wollte sich zu dem Thema nicht äußern.
Im dritten Quartal 2010 erhalte ein Allgemeinmediziner brutto 35 Euro pro Patient, rechnet Dr. Stephan Hofmeister vor, Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin aus Eilbek. Damit sei dann alles abgegolten, bis auf Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen. "Das reicht mittlerweile nicht mehr aus, um einen Praxisbetrieb zu führen." Nach der Honorarerhöhung im vergangenen Jahr hat er in seine Praxis investiert und ein neues Ultraschallgerät angeschafft. Er und seine Kollegen seien aber schon 2009 informiert worden, dass 2010 weniger gezahlt werde. "Wer jetzt sagt, er habe das nicht gewusst, der hat nicht aufgepasst", sagt der Mediziner.
Dass es für die Hamburger Ärzte keine Erhöhung gibt, findet er trotzdem unfair. Die Hamburger Krankenkassen werden in diesem Jahr voraussichtlich rund 3,8 Prozent mehr Ärztehonorar zahlen als 2009, schätzt Kathrin Herbst vom Verband der Ersatzkassen. Bei den Hamburger Ärzten wird dieses Geld aber nicht ankommen. "2010 wird eine Minusrunde gegenüber 2009", sagt Michael Späth, Vorsitzender der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) weist die Schuld an der Fehlkalkulation der KVH von sich. Die Änderung des "Fremdkassenzahlungsausgleichs", die dazu geführt hat, dass Hamburger Ärzte für die Behandlung von Hamburgern mehr Honorar bekommen als für die Behandlung von Patienten aus anderen Bundesländern, habe nicht die Kassenärztliche Bundesvereinigung beschlossen, sondern der erweiterte Bewertungsausschuss. In ihm sitzen Vertreter des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen und der KBV.
Die KVH hat vor dem Sozialgericht Berlin Klage gegen ihren Dachverband eingereicht. Dieser sei definitiv für die Änderung verantwortlich, sind sich die Hamburger sicher.
"Letztendlich müssen die Probleme auf politischen Ebenen und durch Einlenken der KBV und der Kassen gelöst werden und nicht auf dem Rücken der Patienten", sagt Späth. Patienten, die außerhalb Hamburgs wohnen und zu Hamburger Ärzten und Psychotherapeuten gehen, müssten aber keine Angst haben, schlechter behandelt zu werden.