Die Grünen-Fraktionschefin Renate Künast erklärt im Abendblatt-Interview, was ein Scheitern der Schulreform bedeuten würde.
Berlin. Mit der Schulreform in Hamburg steht ein grünes Prestigeprojekt auf der Kippe. Chefin der Grünen-Bundestagsfraktion Renate Künast sagt, was ein Scheitern bedeuten würde und wie SPD und Grüne ohne Mehrheiten in Nordrhein-Westfalen regieren wollen.
Hamburger Abendblatt:
Frau Künast, Sie haben verloren: Sie haben kürzlich gewettet, dass die Deutschen Weltmeister werden. Hatten Sie schon früher solche patriotischen Anwandlungen?
Renate Künast:
Das war Sachkenntnis, die immerhin fürs Halbfinale gereicht hat. Beim Fußball finde ich das Wort Patriotismus ein bisschen zu dicke. Wirklich patriotische Gefühle hatte ich in Zeiten der deutschen Einheit. Ich bin Patriotin in Bezug auf unsere Verfassung, auf Gewaltenteilung, Sozialstaat, Rechtsstaat, bis hin zu Staatszielen wie Umwelt- und Tierschutz. Aber natürlich identifiziere ich mich mit dieser grandiosen Einwanderungsmannschaft, das ist Deutschland im 21. Jahrhundert.
Haben Sie auch eine schwarz-rot-goldene Fahne an Ihrem Auto?
Nein, so weit ist es nicht, aber ich hab schon mal mit einer gewinkt.
Die Fahnen befremden Sie also nicht?
Nein, denn ich glaube, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten einen Teil seiner Geschichte aufgearbeitet hat. Das Sinnbild dafür ist hier gleich um die Ecke: Das Holocaust-Mahnmal ist für mich der Grundstein dieses Landes.
Die jüngsten Umfragen für die Grünen müssen Ihnen ähnlich viel Spaß machen wie die Spielfreude der deutschen Mannschaft. Halten Sie eine absolute Mehrheit für SPD und Grüne bei der nächsten Bundestagswahl für möglich?
+++Volksentscheid - So stimmen Sie zur Schulreform richtig ab!+++
Im Moment halte ich vieles für möglich. Aber wir nehmen uns kein Beispiel an Westerwelle und kritzeln uns Zahlen auf die Schuhsohle. Umfragen sind keine Wahlergebnisse. Gleichwohl, wenn mitten in der Krise 18 Prozent der Menschen Sympathie für grüne Politik zeigen, dann darf man das als großen Beweis für Glaubwürdigkeit werten, aber auch als Auftrag zu verantwortungsvoller Politik.
Sind die Grünen 30 Jahre nach ihrer Gründung auf dem Weg zur Volkspartei?
Volkspartei ist für mich ein negativer Begriff. Früher bedeutete das: Ich suche mir viele verschiedene Lobbygruppen, deren Interessen ich ungefiltert umsetze. Diese Art von Volkspartei wollen wir nicht werden. Ich sehe die Grünen als Partei des Gemeinwohls. Dass wir gerade in den Städten immer größer werden, liegt nicht nur am Desaster der schwarz-gelben Regierung, sondern weil die Menschen sich von Werten leiten lassen. Die gesellschaftliche Mitte verändert sich. Viele definieren sich zunehmend grün, weil sie Zusammenhänge erkennen, weil sie sich zum Beispiel fragen: Was hat unsere Lebensweise mit dem Untergang der Malediven zu tun?
Sie sprechen von einem "schwarz-gelben Desaster". Was könnten Sie denn besser machen als Union und FDP?
Dass diese Regierung ohne Plan und Führung agiert, ist an sich schon schlimm genug. Aber dass sie in Zeiten der Weltwirtschafts- und Klimakrise, des demografischen Wandels, der weltweiten Armut und angesichts der Migrationsprobleme nicht weiß wohin, ist ein Desaster für das Land. Schwarz-Gelb hat kein ernsthaftes Angebot beim Thema Familie und Kinder. Statt die Kinder zu fördern, fördert die Regierung lieber die kinderlose Ehe über das Ehegattensplitting. Beim Sparpaket kann kein einziger CDU-Abgeordneter erklären, was daran ausgewogen und gerecht sein soll.
Spielen Sie damit auf die Kritik von Ole von Beust am Sparpaket an?
Auch auf Ole von Beust, aber Sie finden quer durch die Koalition Abgeordnete, die ähnlich denken. Wenn wir den Haushalt konsolidieren, brauchen wir eine klare Linie für die Einsparungen und für die Frage, wo erhöhen wir die Einnahmen? Beides muss gerecht sein, und stärkere Schultern müssen stärker belastet werden. Außerdem muss gezielt in Innovationen investiert werden. Stattdessen beschäftigt sich die Koalition lieber mit der sinnlosen Debatte über die Verlängerung von Atomlaufzeiten.
Was sollen die Deutschen statt Schwarz-Gelb wählen? Ein einheitliches linkes Lager gibt es nicht.
Wir Grüne setzen auf Eigenständigkeit und nicht auf eine Koalition in der Opposition. Die Linkspartei hat noch nicht verstanden, wie Politik mit Gestaltungsanspruch funktioniert. Das hat die Bundespräsidentenwahl gezeigt.
Kann ein Bündnis mit den Linken überhaupt funktionieren?
Die Linken müssen sich entscheiden, wie sie in der kommenden Woche mit der Kandidatur von Hannelore Kraft als Ministerpräsidentin einer rot-grünen Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen umgehen wollen - und zwar ohne dass man irgendwelche Deals mit ihnen macht. Die Linken sollten sich klarmachen, dass die Alternative die Fortdauer der schwarz-gelben NRW-Regierung wäre.
Werden die linken Abgeordneten für Kraft stimmen?
Ich traue den Linken zu, Fehler nicht zu wiederholen.
Sie haben gesehen, wie schwer der Umgang mit den Linken ist, trotzdem lassen sich SPD und Grüne von ihnen in NRW tolerieren.
NRW bekommt keine tolerierte, sondern eine Minderheitsregierung, der eine Stimme zur Mehrheit fehlt. Eine Tolerierung ist die kleinere Schwester der Koalitionsvereinbarung, mit klaren und verbindlichen Absprachen. Das wird es in NRW nicht geben. Die künftige Landesregierung wird sich Mehrheiten für einzelne Sachfragen suchen müssen.
Müssen unter Umständen Neuwahlen die Situation klären, wenn die Minderheitenregierung nicht funktioniert?
Lassen Sie die neue Regierung erst mal ihre Arbeit aufnehmen. Die NRW-Grünen haben eine gute Koalitionsvereinbarung mit der SPD mit einem ehrgeizigen Programm gemacht. Natürlich ist eine Minderheitsregierung immer eher als eine Mehrheitsregierung der Situation von Neuwahlen ausgesetzt. Aber davor scheuen wir uns nicht.
Welche Projekte müssten scheitern, damit Sie Neuwahlen fordern?
In NRW wird jetzt um die besseren Argumente gerungen. Nur dagegen sein wird für die Opposition nicht reichen. Wir denken positiv und wollen unsere Ziele umsetzen. Dazu gehört, den Kommunen durch eine bessere Finanzausstattung ihre Handlungsfähigkeit zurückzugeben, die Studiengebühren zu senken, der Ausbau von Kitas und Schulen.
Angesichts der leeren Kassen ein tollkühnes Vorhaben, so viel zu investieren.
Mutig und nötig. Deswegen lautet unsere Haushaltsdevise: Konsolidieren durch kluges Sparen und intelligentes Investieren. Jede Krise ist auch eine Chance, hinterher besser zu sein als vorher. Jetzt reden alle wieder von Wachstum, aber nicht darüber, was denn wachsen und was besser schrumpfen soll.
Wenn Sie sich die möglichen Bündniskonstellationen anschauen: Wer ist denn Ihr erster Partner?
Wir als Grüne sind auf keinen Partner festgelegt. Mein Ehrgeiz ist es, Grün stärker zu machen. Aber wir wissen, dass die höchste inhaltliche Schnittmenge mit uns und der SPD besteht, auch wenn uns manches trennt.
In Berliner Senat regiert Rot-Rot. Würden Sie das gerne ändern?
Die Grünen werden bestimmt noch größer und noch stärker in Berlin, ohne Zweifel. Die Umfragen zeigen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Parteien.
Wenn Sie noch größer werden, überholen Sie die SPD.
Und das ist auch gut so, oder?
Bedeutet das nicht, dass den Grünen ein Bürgermeisterposten in Berlin winkt?
Diese Frage wird letztlich auch über den Wettstreit der Konzepte entschieden.
Würde Sie das nicht reizen?
Die Grünen sind jetzt erst mal auf dem Weg, ein Programm für die ganze Stadt zu entwickeln. Ende des Jahres geht's dann um Personalfragen.
Wenn die Hamburger die Schulreform im Volksentscheid ablehnen, ist Schwarz-Grün dann gescheitert?
Nein, das ist keine Abstimmung über den Senat und seine Arbeit, sondern über eine Sachfrage. Durch den Druck der Bürger wurde die Reform bereits verbessert. Das Elternwahlrecht ist wieder da und es wurde noch mehr auf Qualität und Schulungen gesetzt. Das ist eine sehr gute Weiterentwicklung. Was da jetzt auf dem Tisch liegt, ist brillant. 970 neue Lehrerstellen, kleinere Klassen, Lehrer werden besser qualifiziert, es gibt massenhaft mehr Deutschunterricht. Davon profitieren nicht nur Migrantenkinder, sondern alle Kinder.
Geht es in Hamburg nicht um mehr als nur die Hamburger Schulen, sondern um die Reformfähigkeit der Bildungspolitik insgesamt?
Ich gehe davon aus, dass die Reform nicht scheitert. Hamburg könnte ein Leuchtturm sein, wenn dieser Volksentscheid im grünen Sinne ausgeht. Das würde zeigen, dass alte Bildungsstrukturen doch aufgelöst werden können.
Es könnte auch ein Fanal des Scheiterns sein?
Ein Scheitern in Hamburg würde Bildungsreformen andernorts nicht erleichtern. Aber ich bleibe optimistisch.
Aber das ausgerechnet ein Volksentscheid dieses schwarz-grüne Projekt zu Fall bringen könnte, entbehrt doch nicht einer gewissen Ironie.
So ist es nun mal mit Volksentscheiden. Ich gebe zu, am liebsten gewinne ich sie. Ich finde es gut, dass es Volksentscheide gibt, etwa den zum Nichtraucherschutz in Bayern. Die Bevölkerung zeigt es halt manchmal den Parlamenten.
Sollte man jetzt den Nichtraucherschutz bundeseinheitlich und strenger regeln?
Unbedingt, weil man schon bei diesem Flickenteppich nicht mehr weiß, was wo geht. Die richtige Antwort wäre, auch die Arbeitsstättenverordnung zu ändern mit dem Ziel: Wo Arbeitnehmer tätig sind, darf nicht geraucht werden, auch nicht in Kneipen. Das erfordert Mut, aber es gehört zum guten Gesundheitsschutz dazu. Eine ordentliche Reform kriegen Sie nicht im Schleichgang, da braucht es Mut, voranzugehen.