Die Zustimmung der Opposition nimmt den Druck von den Koalitions-Abgeordneten und macht den Streit im Regierungslager deutlich
Normalerweise funktioniert die parlamentarische Demokratie so: Die Regierung schlägt ein neues Gesetz vor, die Oppositionsfraktionen kritisieren es und stimmen dagegen. Die Koalitions-Fraktionen loben es und stimmen dafür. Gesetz beschlossen, weil die Regierung sich auf eine Mehrheit der Abgeordneten stützen kann.
Für die Abstimmung über das Euro-Rettungspaket im Bundestag Ende September hat die SPD, angeführt von Parteichef Gabriel, zusammen mit den Grünen diesen Ablauf außer Kraft gesetzt. Sie hat vorab Zustimmung angekündigt. Mit einem Hintergedanken, der durchaus politische Cleverness verrät: Da die Mehrheit damit bereits gesichert ist, sinkt der Druck auf jeden einzelnen Koalitions-Abgeordneten, für Merkels Vorlage zu stimmen. Dadurch löst sich, wie jetzt bei der Probeabstimmung, die Disziplin auf, entsteht Streit, werden Uneinigkeit und Rivalitäten im Regierungslager offensichtlich.
Bei Union und FDP geht es in der Euro-Frage wirklich hoch her, insoweit ist das Kalkül Gabriels aufgegangen. Aber dennoch hat sich die SPD selbst ausgetrickst: Die Diskussion, die zurzeit in den Regierungsfraktionen geführt wird, hat Niveau und Leidenschaft. Sie behandelt endlich einmal die Sorgen und Fragen, die den Deutschen schon lange auf der Seele liegen. Es ist eine überfällige Diskussion - und Rot-Grün hat sich aus dieser Diskussion ausgeklinkt.
Dabei haben die Abgeordneten von SPD und Grünen in der Sommerpause gewiss genauso viel Kritik und Unmut von ihren Wählern vermittelt bekommen wie ihre Kollegen aus den Regierungsfraktionen. Immerhin sind zwei Drittel der Deutschen, so hat es der "ARD-Deutschlandtrend" gerade ermittelt, gegen das Rettungspaket.
Wie kann man überschuldete EU-Staaten zum Sparen zwingen? Zahlen die Deutschen Milliarden und am Ende geht die Währungsunion doch den Bach runter? Sind die ominösen Euro-Anleihen der Anfang vom Ruin oder die einzige Lösung? Müssen für eine gemeinsame europäische Finanz- und Währungspolitik immer mehr Kompetenzen abgegeben werden bis zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa? Oder muss die Hoheit über die deutsche Politik nicht im Gegenteil ganz in Deutschland bleiben, um Einfluss und Gewicht zu behalten? Darüber wird in Union und FDP jetzt gestritten. Und da die Bundesregierung es sich nicht leisten kann, im Bundestag ohne eigene Mehrheit dazustehen, liefert sie Antwort-Versuche und Erklärungen wie noch nie. Hinter Termin- und Entscheidungsdruck oder der Unruhe auf den Finanzmärkten kann sie sich nicht mehr verstecken. Merkel und Schäuble müssen um jeden Einzelnen ihrer zweifelnden Abgeordneten kämpfen.
So haben die Koalitionsfraktionen in den letzten Tagen dem Bundestag in der Europa-Politik endlich das Mitsprache- und Entscheidungsrecht verschafft, das ihm zusteht. Noch bevor dieses Recht (und die Pflicht dazu) am heutigen Mittwoch vom Verfassungsgericht vermutlich erneut bekräftigt wird. Beschlüsse auf EU-Gipfeltreffen über deutsche Zahlungen oder Bürgschaften in Milliardenhöhe ganz am Bundestag vorbei wird es künftig nicht geben.
Das Parlament setzt die Regierung unter Druck und zwingt sie zur Offenheit. So soll es sein. Dass dieser Druck beim Euro-Rettungspaket nicht von der Opposition ausgeht, sondern von den Regierungsfraktionen, ist nur vordergründig eine Schwächung von Schwarz-Gelb. In Wirklichkeit liegt darin langfristig eine Chance für Union und FDP. Sie können sich als diejenigen Parteien profilieren, die zwar weiter auf Europa setzen, aber gleichzeitig die Sorgen der Deutschen ernst nehmen.
Aller Voraussicht nach wird die Koalition im Bundestag am Ende genug eigene Stimmen für eine Annahme des Rettungspakets aufbringen. Es ist im Prinzip gut, dass die Opposition ebenfalls zustimmen wird, denn bei einem so wichtigen Thema sollte Deutschland zusammenstehen. Und eine Stopp- oder Exit-Taste gibt es in der Europa-Politik nicht, ein Ausstieg aus dem Euro wäre für Deutschland noch gefährlicher als seine Rettung.
Diese Rettung muss aber für den deutschen Steuerzahler so abgesichert wie möglich sein - und sie muss den Deutschen erklärt werden.
Der Autor Alfred Merta, 56, beobachtet seit mehr als 35 Jahren die deutsche Politik