Christian Rathmann lehrt an der Uni Hamburg. Er studierte in den USA außerdem die amerikanische Gebärdensprache.
Hamburg. In der Mitte des Seminarraums sitzen zwei Gebärdensprachdolmetscherinnen. Sie übersetzen abwechselnd alles, was Christian Rathmann lehrt, in die deutsche Lautsprache, denn nicht alle Teilnehmer beherrschen die Gebärdensprache flüssig. Ebenso übersetzen sie die Antworten der Studenten für den Dozenten. Rathmann ist Deutschlands einziger gehörloser Professor. Der 40-Jährige unterrichtet an der Universität Hamburg Gebärdensprachlinguistik und Gebärdensprachdolmetschen.
Thema der Sitzung ist das sogenannte Baby Signing, bei dem hörende Eltern ihren hörenden Kleinkindern erste Gebärden beibringen, um mit ihnen etwas früher kommunizieren zu können. „Das ist eine regelrechte Mode geworden“, sagt Rathmann. Hörende Kinder könnten ihre ersten Worte in der Regel mit zehn Monaten aussprechen. Die ersten Gebärden würden bereits einen Monaten früher gelingen.
Das Paradoxe daran sei, dass das Erlernen der Deutschen Gebärdensprache (DGS) für gehörlose Kinder noch immer nicht selbstverständlich sei. „Wenn festgestellt wird, dass ein Kind eine Hörschädigung hat, dann geht es erstmal in die Audiotherapie, Logopädie oder es wird mit Hörgeräten oder Cochlear Implanaten versorgt, aber die Deutsche Gebärdensprache kommt in der Erstberatung so gut wie nicht vor“, sagt Rathmann.
Immer noch Barrieren für Gehörlose
Es sei noch immer eine Herausforderung der Gesellschaft zu zeigen, dass die Deutsche Gebärdensprache als eine vollwertige Sprache als große Bereicherung für die Sprachentwicklung und sprachliche Vielfalt in der Gesellschaft darstellt. In Deutschland gebe es noch immer viele Barrieren, etwa beim Zugang zu Bildung, Medien und der Teilhabe am Arbeitsleben.
Rathmann wurde gehörlos geboren und ging in Erfurt auf eine Gehörlosenschule. Seine Eltern hätten ihn nicht ungewöhnlich gefördert, aber mit viel Liebe erzogen, sagt er. Wichtig seien auch seine Geschwister gewesen. Mit dem Titel „Deutschlands einziger gehörloser Professor“ könne er sich nicht so richtig identifizieren. „Es gibt inzwischen gehörlose Juristen, Betriebswirtschaftler, Psychologen und vielerlei mehr“, gebärdet Rathmann, während eine Institutsdolmetscherin übersetzt.
Sein Interesse an Sprachen führte ihn Anfang der 90er Jahre an die Uni Hamburg und später in die USA zum Studieren und Unterrichten. Vor allem der Aufenthalt in den Vereinigten Staaten habe seiner Karriere einen großen Schub versetzt, sagt er.
Rathmann: "Ich bin ein Augenmensch“
In den etwa zehn Jahren dort lernte er die amerikanische Gebärdensprache (ASL) nahezu perfekt. Wie gesprochenes amerikanisches Englisch ist ASL eine eigene Sprache. „Das Lustige war, dass mir die amerikanischen Gehörlosen immer gesagt haben, 'Du hast aber auch einen deutschen Akzent', erzählt Rathmann. Wie die Lautsprache habe jede Gebärdensprache ihre eigene Intonation und Satzmelodie.
In Hamburg leitet Rathmann seit April 2008 das Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser (IDGS). Mit etwa 30 Mitarbeitern und pro Studienjahr über 30 Bachelor-Studenten und seit Kurzem einigen Master-Studenten ist es die größte Forschungseinrichtung für Gebärdensprachen in Deutschland und das einzige eigenständige Institut.
Das größte Vorhaben derzeit ist das auf 15 Jahre angelegte DGS-Korpusprojekt. Dabei soll ein elektronisches Wörterbuch entstehen, bei dem Wörter in der Deutschen Gebärdensprache nachgeschlagen werden können und umgekehrt. Das Besondere dabei ist, dass die einzelnen Gebärden im Kontext eines natürlichen Gesprächs aufgezeichnet werden. Basis sind über etwa 600 bis 800 Stunden Videomaterial von Dialogen von 320 Informanten aus ganz Deutschland.
Rathmann ist Forscher mit Leidenschaft. “Aber was mein Leben jetzt angeht, nur weil ich nicht hören kann: Ich lebe eigentlich nicht besonders anders als eine hörende Person", betont er. “Ich bin ein Augenmensch, mir fallen visuell Dinge schneller ins Auge". Das sei vielleicht der Unterschied.