Wissenschaftler aus Göttingen finden bei Hamburger Patienten besonders aggressiven Keim. Siebter Todesfall in der Hansestadt.

Hamburg. Die EHEC-Erkrankungen in Norddeutschland gehen nach Erkenntnissen von Göttinger Wissenschaftlern auf einen besonders aggressiven Keim zurück. Die Analyse des Blutes von zwei betroffenen Patienten aus Hamburg deute darauf hin, dass nicht der EHEC-Erreger, sondern ein mit dem Begriff EAEC (Entero-Aggregativer Escherichia coli) bezeichneter Keim die Krankheiten verursache, sagte am Mittwoch der Leiter des Göttinger Laboratoriums für Genomanalyse, Rolf Daniel.

Der Keim binde sich besonders fest an Gewebe, bilde Zellansammlungen und spule dort sein krank machendes Programm ab. Mehr als 96 Prozent des nun untersuchten genetischen Materials aus Hamburg und eines EAEC-Stammes seien identisch, sagte Daniel. Den Forschern zufolge hat der EAEC-Keim sein krank machendes Potenzial erheblich gesteigert, indem er aus anderen E.coli-Stämmen wie EHEC mit Hilfe von Bakterienviren ein spezielles Gen übernommen und fest in seinem eigenen Chromosom verankert habe.

Dieses Gen bilde ein besonderes Gift, das sogenannte Shiga-Toxin. Das Shiga-Toxin stamme ursprünglich aus dem Erreger der Bakterienruhr und könne das hämorrhytisch-urämische Syndrom (HUS) auslösen. Diese Variante der EHEC-Erkrankung gilt als besonders gefährlich, sie kann zu Blutzersetzung und Nierenversagen führen. Die Wissenschaftler schlagen für den neuen Erreger die Bezeichnung EAHEC (Entero-Aggregativer-Hämorrhagischer E.coli) vor.

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"Die Ergebnisse erlauben wichtige Rückschlüsse darauf, weshalb das besonders in Norddeutschland grassierende Bakterium so aggressiv ist“, sagte Daniel. In den vergangenen Wochen sind Hunderte Menschen an EHEC erkrankt und mehr als 30 gestorben. Wissenschaftler aus Hamburg und China hatten zuvor bereits die Erbsubstanz des Bakteriums entschlüsselt und dabei herausgefunden, dass es sich um einen neuen Stamm von E.coli-Bakterien handelt.

Siebter EHEC-Toter in Hamburg

In Hamburg ist ein weiterer Mensch an den Folgen des gefährlichen Darmkeims EHEC gestorben. Ein 1920 geborener Mann starb an der Durchfallkrankheit, wie die Gesundheitsbehörde am Mittwoch mitteilte. Damit steigt die Zahl der EHEC-Toten in Hamburg auf sieben. Bundesweit erhöhen sich die entsprechenden Todesfälle auf 37. Seit Dienstag wurden 18 neue ECEC-Fälle gemeldet. Es wurden zudem fünf weitere Fälle der Komplikation HUS registriert. Die in den vergangenen 24 Stunden neu gemeldeten 18 EHEC-Fälle traten bereits vor dem langen Pfingstwochende auf, wie die Behörde am Mittwoch mitteilte. Bei den fünf neu verzeichneten HUS-Fällen seien die Erkrankungen bereits im Mai aufgetreten.

Die Hamburger Gesundheitsbehörde geht daher weiter von einer Stagnation bei akuten Neuerkrankungen mit EHEC aus. Den Angaben zufolge beläuft sich die Zahl der gemeldeten EHEC-Fälle beziehungsweise Verdachtsfälle aktuell auf 1.071. Die Zahl der schwer erkrankten HUS-Patienten liegt bei 186.

Zahl der EHEC-Neuerkrankungen rückläufig

Bundesweit ebbt die Welle der EHEC-Neuerkrankungen weiter ab. Es werde ein kontinuierlicher Rückgang der EHEC- und HUS-Fallzahlen beobachtet, teilte das Robert-Koch-Institut (RKI) am Mittwoch in Berlin mit. Seit Anfang Mai sind laut RKI 37 Menschen in Deutschland an EHEC oder HUS gestorben. Insgesamt seien 3.244 EHEC- oder HUS-Fälle übermittelt worden.

Seit etwa einer Woche würden Erkrankungen an HUS und EHEC auf deutlich niedrigerem Niveau als zuvor an das RKI übermittelt, hieß es. Drei Viertel der Fälle stammten aus den vier Bundesländern Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Betroffen seien aber alle Bundesländer. Die höchste Zahl an EHEC/HUS-Fällen registrierte die Behörde im Zeitraum vom 21. bis 23. Mai.

Ministeriumssprecher: Scheitelpunkt überschritten

In Niedersachsen haben die Gesundheitsbehörden zehn Tage nach der Schließung des als Infektionsquelle geltenden Sprossenbetriebesin Bienenbüttel weitere 28 EHEC-Neuerkrankungen registriert. Die Gesamtzahl der gemeldeten EHEC-Erkrankungen oder -Verdachtsfälle habe sich damit binnen eines Tages auf 669 erhöht, teilte das Gesundheitsministerium in Hannover am Mittwoch mit. Die Zahl der Patienten mit dem Hämolytisch-Urämischen Syndrom (HUS) sei zeitgleich um 6 auf 134 gestiegen.

Man gehe dennoch weiter davon aus, dass der Scheitelpunkt der EHEC-Neuerkrankungen überschritten sei, sagte Ministeriumssprecher Thomas Spieker. Ärzte meldeten EHEC-Erkrankungen oft erst nach der Bestätigung des Erregers durch ein Labor den Behörden. "Die gemeldeten Patienten können dann bereits wieder gesund sein“, betonte er.

Der Ministeriumssprecher nahm zugleich die Gesundheitsbehörden gegen den Vorwurf in Schutz, die Meldewege seien zu lang. Bereits seit 2001 gebe es in den Behörden den elektronischen Meldeweg, sagte Spieker. Die Ämter würden lediglich von Ärzten und Krankenhäusern noch per Fax über Neuerkrankungen informiert.

Der als EHEC-Quelle geltende Sprossenerzeuger in Bienenbüttel war vor zehn Tagen geschlossen worden. Zeitgleich wurde bundesweit vor dem Verzehr roher Sprossen gewarnt. Die Zeitspanne zwischen einer Infektion mit dem EHEC-Erreger und dem Ausbruch der Darmerkrankungen beträgt nach Angaben des Robert-Koch-Istitutes zwei bis zehn Tage.

Backhaus: Sprossen raus aus allen Angeboten

Unterdessen hat Verbraucherschutzminister Till Backhaus (SPD) alle Restaurants und Lebensmittel-Einzelhändler aufgefordert, Sprossen jeglicher Art aus dem Angebot zu nehmen. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass manche Einrichtungen nach wie vor Sprossen anböten, sagte Backhaus am Mittwoch in Rostock bei der Vorstellung des Verbraucherschutzberichts 2010. Grund dafür sei, dass die Infektionswege noch immer nicht eindeutig geklärt seien. Wie Backhaus weiter berichtete, hat sich der Tod einer 87-jährigen Frau aus dem Landkreis Parchim Ende Mai nicht als Folge einer EHEC-Infektion herausgestellt.

Gesundheitsbehörde reagiert auf Frunet-Antrag

Die Hamburger Gesundheitsbehörde hat am Mittwoch zum ersten Eilantrag des Gemüseexporteurs Frunet Stellung bezogen. Die Behörde habe die vorgegebene Frist eingehalten und über ihren Anwalt einen Schriftsatz eingereicht, sagte eine Sprecherin der Hamburger Verwaltungsgerichte am Mittwoch auf dapd-Anfrage. Das Gericht werde in Kürze über den Eilantrag auf Akteneinsicht entscheiden.

Zum Inhalt des Schreibens konnte sie keine Angaben machen. Ein Sprecher der Gesundheitsbehörde sagte, dass seine Behörde den Schiftverkehr mit der Anwaltskanzlei nicht über die Presse kommunizieren wolle.

Vergangene Woche hatte die Berliner Kanzlei Lindenpartners den Eilantrag für den spanischen Obst- und Gemüsehändler Frunet beim Verwaltungsgericht eingereicht. Darin fordert Frunet nach Gerichtsangaben ausschließlich die Einsicht in die Akten der Gesundheitsbehörde. Diese hat die Behörde den Spaniern nach Kanzleiangaben bislang verweigert.

Diese Woche war zudem bekannt geworden, dass Frunet am vergangenen Freitag einen weiteren Eilantrag beim Verwaltungsgericht gestellt hatte. Mit dem Unterlassungsantrag soll der Hamburger Gesundheitsbehörde verboten werden, weiter zu behaupten, der auf einer Gurke der Firma Frunet nachgewiesene Erreger sei lebensgefährlich, wie das Unternehmen mitteilte. Die Behörde der Hansestadt hat laut Gerichtssprecherin bis Freitag (17. Juni) Zeit, zu dem zweiten Eilantrag Stellung zu nehmen.

Nach dem EHEC-Fund an vier Salatgurken in Hamburg hatte die Gesundheitsbehörde der Stadt am 26. Mai Frunet-Gurken als eine erste Infektionsquelle bezeichnet. Wenige Tage später musste die Behörde allerdings einräumen, dass es sich dabei nicht um den EHEC-Stamm handelt, der zur Epidemie geführt hat.

Russland hält an Importverbot für EU-Gemüse fest

Derweil hält Russland ungeachtet wachsender Kritik aus der EU an seinem Anfang Juni verhängten Einfuhrverbot für Gemüse aus der EU fest. Der Darmkeim gebe weiter Anlass zur Sorge, obwohl die EU Aufklärung versprochen habe, kritisierte Russlands oberster Amtsarzt Gennadi Onischtschenko am Mittwoch. Verhandlungen mit EU-Vertretern über ein Ende der Handelsblockade hätten am Vorabend keinen Durchbruch gebracht, sagte Onischtschenko nach Angaben der Agentur Interfax. Die EU hält das Importverbot für Gemüse aus allen 27 Staaten der Union für völlig überzogen.

Auf dem EU-Russland-Gipfel am Freitag in Nischni Nowgorod hatten sich beide Seiten darauf geeinigt, die Einfuhr von Gemüse unter Sicherheitsgarantien wieder zu erlauben. Seither warte Russland auf Vorschläge und Laborzertifikate, die die Ungefährlichkeit der Waren bestätigten, sagte Onischtschenko. Aus Sicht von Beobachtern nutzt Moskau den Boykott nicht zuletzt für politische Machtspiele – nach außen, um zu zeigen, wie bedeutend der Markt für die EU ist, und nach innen, um für einheimische Produkte zu werben.

(lmn/dpa/dapd)