Mindestens drei Morde und 40 Missbrauchsfälle. Spurensuche im Leben eines Triebtäters: Pädagoge Martin N. lebte mit Kindern aus Problemfamilien unter einem Dach. Eines von ihnen war Maja. Sie erinnert sich an sein Interesse für Jungs
Wilstorf. Nun kennt plötzlich ganz Deutschland ihr bescheidenes, gelb geklinkertes Häuschen an der Jägerstraße, auf dessen Fensterbänken im Erdgeschoss Orchideen blühen. Seit dem vergangenen Freitag ist diese biedere Fassade zu einem Symbol geworden. Einem Symbol für den erschreckenden Umstand, dass sich das Monströse oft in der Normalität versteckt.
Christa R., die Frau, der das zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Haus gehört, hat das Namensschild des Mannes, an den sie vor zehn Jahren die 59 Quadratmeter im Obergeschoss vermietete, am Wochenende entfernt. Denn über ihr lebte Martin N., 40, der Pädagoge, der gestanden hat, drei Jungen getötet und 40 sexuell missbraucht zu haben - und von dem Ermittler glauben, dass er noch weit mehr Taten begangen hat.
Zwei Zimmer, Laminatboden, Ledermöbel, Kerzenständer, ein großer Fernseher, Spielkonsolen: Es ist die typische Wohnung eines alleinstehenden Mannes, in der Martin N. bis zu seiner Verhaftung lebte. Wären da nicht die zahlreichen Kuscheltiere. Dazu: Unmengen Spiele, eine Auto-Sitzschale für Kinder im Vorschulalter, Babyöl auf dem Couchtisch. Christa R. sagte RTL, sie habe sich schon über den häufigen Jungenbesuch gewundert. Aber der Mieter habe immer pünktlich gezahlt. Außerdem sei er hilfsbereit und höflich gewesen. Deshalb habe sie nicht weiter nachgefragt.
Vier Jahre lang hat auch die heute 21 Jahre alte Maja* mit Martin N., dem "Monster aus der Jägerstraße", quasi unter einem Dach gelebt. Bis 2008 wohnte sie in jener Harburger Kinder- und Jugend-WG, in der Martin N. als Betreuer arbeitete. Sie hat ihn als "liebevoll und geduldig", aber auch als verdächtig engagiert kennengelernt. Die Jungen im Haus seien ihm, der im Schichtdienst mindestens jeden vierten Tag und jede vierte Nacht im zweigeschossigen WG-Haus verbrachte, schon immer viel näher gewesen, sagt Maja. Nur ihnen habe er Weihnachtsgeschenke gemacht. Er habe sie oft berührt und einige von ihnen mit in seinen Privaturlaub nach Dänemark genommen. Das habe sie gewundert, sagt Maja. Aber die Jungs hätten das scheinbar okay gefunden und sich nicht über Übergriffe beschwert.
Ist es wirklich okay, wenn ein Betreuer, dem Minderjährige aus Problemfamilien anvertraut sind, mit Jungen unter einer Decke kuschelt, wenn er sie nach Hause einlädt und sie in seiner Wohnung übernachten? Im Rückblick sei es vor allem erstaunlich, dass die anderen Betreuer das zugelassen hätten, sagt Maja. Für einige Kinder sei er so eine Art Vaterersatz gewesen. "Er war extrem beliebt, einfach auch, weil er immer Zeit für die Kinder hatte", sagt sie. Dass der fast zwei Meter große Betreuer dabei wohl hauptsächlich eigene Interessen befriedigen wollte, das hätten die Kinder nicht realisiert - wohl auch kaum realisieren können.
Wenn es unter den Kindern Gerüchte über Martin N. gab, dann darüber, dass er vielleicht "andersherum" sei, sagt Maja. "Weil er nie etwas von einer Freundin erzählt hat." Ihre ehemaligen Mitbewohner werden nach Abendblatt-Informationen derzeit von der Soko "Dennis" zu ihren Erfahrungen mit Martin N. befragt.
Wie aber wurde aus dem schlaksigen Bremer Jungen einer von Deutschlands furchterregendsten Serientätern? Mit einem Bruder wuchs Martin N. in Bremen auf. Die Mutter des Mannes - sie lebt noch heute in der Hansestadt - ist derzeit nicht in der Lage, Fragen zu beantworten. Sie soll zusammengebrochen sein, als sie die Nachricht vom Doppelleben ihres Sohnes erfuhr. Details über die Kindheit des Martin N. sind bislang kaum bekannt. Fakt ist: Im Alter von 22 Jahren beging er seinen ersten Mord. Er entführte den damals 13-jährigen Stefan J. aus einem Internat, fesselte und tötete ihn. 1995 brachte er den acht Jahre alten Dennis R. um. Er fuhr mit ihm nach Dänemark, verbrachte mehrere Tage mit ihm, bevor er ihn tötete und vergrub. Nach beiden Taten nahm Martin N. einen längeren Urlaub. 2001 wurde der neunjährige Dennis K. Opfer des Serientäters, der zu diesem Zeitpunkt schon in Hamburg lebte und arbeitete. Mindestens 40 Jungen wurden Opfer von Missbrauchstaten.
Als er noch in Bremen lebte, wo er eine Souterrain-Wohnung an der Hegelstraße in der Neustadt gemietet hatte, soll Martin N. Pflegekinder bei sich aufgenommen, wie Anwohner "Spiegel online" mitteilten. In der Bremer Sozialbehörde prüft man diese Informationen derzeit. Behördensprecherin Petra Kodré sagte jedoch, sie halte dies für "extrem unwahrscheinlich". In Bremen soll Martin N. Abitur gemacht und auf Lehramt studiert haben. Nach wie vor soll der Pädagoge Mitglied der Bremer SPD sein, wie "Spiegel TV" berichtet. Im Mai 2000 verließ er die Weser-Metropole und zog nach Wilstorf - vermutlich, weil er das Angebot bekommen hatte, in der Harburger Wohngruppe, die von dem in Nordrhein-Westfalen ansässigen Träger Friedenshort GmbH betrieben wird, Betreuer zu werden. Im Bewerbungsgespräch hatte er sich gegen zwei Kandidaten durchgesetzt. Im Jahr 2008 musste er gehen, weil Friedenshort-Mitarbeiter von Ermittlungsverfahren gegen ihn Wind bekommen hatten. Einmal ging es um sexuellen Missbrauch von Jungen, ein anderes Mal um eine Erpressung mit Kinderporno-Fotos. Bei einer frühmorgendlichen Razzia, die die Polizei bei ihm im Verlauf des zweiten Verfahrens durchführte, trafen die Beamten neben dem Verdächtigen auch einen minderjährigen Jungen aus der WG an der Jägerstraße an. Der Vorfall blieb folgenlos. Nach dem Rauswurf schulte N. Erwachsene, die ihren Führerschein verloren hatten, für anstehende medizinisch-psychologische Untersuchungen.
Von all dem bekamen die Nachbarn des Pädagogen nichts mit. Erhard Bach, 61, traf ihn oft beim Brötchenholen. "Wir haben über dies und das geredet." Nahe gekommen sei man dem eher wortkargen Mann nicht. Bei Kaufmann Bekir Kalender, 35, Betreiber eines Tante-Emma-Ladens an der Mensingstraße, kaufte N. oft ein. Wein habe er offenbar gern getrunken, und Schokolade möge er. Im Fitnessklub Body Line an der Winsener Straße ging Martin N. häufig in die Sauna, trainierte manchmal an den Geräten. "Unauffällig und nett. Ein Kunde, wie man sich ihn wünscht", sagt Betreiber Uwe Römer.
* Name geändert