Martin Apitzsch, Fachreferent für Jugendhilfe beim Diakonischen Werk, über Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch in sozialen Einrichtungen
Hamburg. Martin Apitzsch arbeitet seit 15 Jahren beim Diakonischen Werk in Hamburg mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe.
Hamburger Abendblatt:
Was haben Sie gedacht, als Sie erfahren haben, dass der geständige Kindermörder Martin N. lange für einen Träger der Diakonie gearbeitet hat?
Martin Apitzsch:
Ich war entsetzt und habe sofort an die Kollegen und Kinder gedacht, die mit ihm zu tun gehabt haben. Was für ein fürchterliches Erschrecken muss das gewesen sein.
Haben Sie Martin N. gekannt?
Apitzsch:
Nein. Ich habe selbst auch als Heimbetreuer gearbeitet, aber in all den Jahren bin ich nie mit Missbrauchsfällen konfrontiert worden.
Wie kann man Missbrauch in der Jugendhilfe ausschließen?
Apitzsch:
Wir müssen im Vorwege alles tun, damit solche Leute gar nicht erst in diesem Berufsfeld tätig sein können. Sei es als Hauptamtliche, Ehrenamtliche oder als Honorarkräfte.
Wie schafft man das?
Apitzsch:
Durch ganz viele verschiedene Maßnahmen. Das Wichtigste ist für mich aber, dass in den Einrichtungen eine Kultur des Respekts gegenüber Kindern gefördert wird. Es muss klar sein, dass Kinder ein Recht haben, sich zu beschweren. Es darf keine Geheimnisse geben, es muss über alles geredet werden dürfen. Einrichtungen müssen zum Beispiel darauf bestehen, dass die Erzieher immer anklopfen, bevor sie ein Zimmer betreten. Es geht bei unserer Arbeit jeden Tag um Nähe und Distanz. Wir sind keine Eltern, aber Pädagogik geht auch nicht ohne Nähe. Man muss ein Kind auch mal in den Arm nehmen oder streicheln. Aber es darf nicht übergriffig werden, und es muss immer der Respekt gewahrt bleiben.
Welche Strukturen ziehen Täter an?
Apitzsch:
Zum einen Einrichtungen mit hierarchisch-autoritären Strukturen, in denen kein offenes Klima herrscht, wo es Geheimnisse gibt und über bestimmte Dinge nicht geredet wird. Zum anderen aber auch kumpelhafte Verhältnisse. Wo dann eben nicht nachgefragt wird, wenn ein Erzieher zum Beispiel erzählt, dass er die Kinder oder Jugendlichen auch mal außerhalb der Dienstzeit zu sich nach Hause einlädt.
Inwieweit hilft die Vorlage eines Führungszeugnisses?
Apitzsch:
Seit fünf Jahren haben wir mit unseren Trägern die Vereinbarung, dass bei Neueinstellungen ein Führungszeugnis vorgelegt werden muss. In Hamburg lassen wir uns schon heute erweiterte Führungszeugnisse vorlegen, die noch mehr Straftatbestände beinhalten. Ich bin außerdem dafür, dass Mitarbeiter eine Selbstverpflichtungserklärung abgeben sollten. Und dass in Einstellungsgesprächen gefragt wird, wie man mit Macht und Kontrolle umgeht. Das schreckt mögliche Täter ab.
Geht es bei Missbrauchsfällen hauptsächlich um Machtausübung?
Apitzsch:
Ja, und es ist wichtig, dass man das weiß. Es geht fast immer um Macht und Gewalt, weniger um sexuelle Abartigkeiten. Die Hälfte der Missbrauchsfälle finden im Bekanntenkreis statt, ein Viertel in der Familie, und bei einem Viertel handelt es sich bei dem Täter um den großen Unbekannten.
Welche Signale senden Kinder aus, die Opfer von Missbrauch geworden sind?
Apitzsch:
Sie werden schweigsam, ängstlich und ziehen sich zurück. Klar ist auch, dass es typische Opferprofile gibt. Kinder, die laut und selbstbewusst sind, sind weniger gefährdet als Kinder, die in sich gekehrt sind.
Sollte bei einem Missbrauchsverdacht sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden?
Apitzsch:
Darüber wird zurzeit in Berlin beim runden Tisch zum Thema "Sexueller Kindesmissbrauch" diskutiert. Ich persönlich finde, dass man das immer tun sollte. Das ist nämlich auch im Sinne des Mitarbeiters, wenn zum Beispiel ein Verdacht durch die Ermittlungen ausgeräumt werden kann.
Was muss die Politik tun?
Apitzsch:
Sie muss beim geplanten Bundeskinderschutzgesetz nachbessern. Wir fordern die Einrichtung einer unabhängigen Ombudsstelle, um Kindern die Möglichkeit zu geben, sich außerhalb der Einrichtung zu beschweren.