Michael Braungart plant die nächste industrielle Revolution: eine abfallfreie Wirtschaft. Steven Spielberg dreht einen Film über den Hamburger.
Hamburg. Sie hatten es wieder bis ganz nach oben geschafft. Waren in bitterer Kälte auf den Schornstein geklettert und entrollten ein Transparent. Ein kilometerweit sichtbarer Protest gegen den Schweizer Chemiekonzern Ciba-Geigy. Nach einem Großbrand waren 30 Tonnen hochgiftige Chemikalien in den Rhein geflossen. Die Umweltkatastrophe vernichtete Tiere und Pflanzen und den Glauben in die chemische Industrie. Eine Handvoll Greenpeace-Aktivisten stieg den bösen Firmenbossen aufs Dach. Eine Neuauflage des Spiels David gegen Goliath. Die Leitung bei dieser gefährlichen Aktion im November 1986 hatte Michael Braungart.
25 Jahre später sitzt Professor Michael Braungart im 6. Stock des Patriotischen Gebäudes in der Hamburger Innenstadt. Seit einer Stunde läuft die Telefonkonferenz mit China. Braungart verhandelt mit Mr. Song, dem Präsidenten von Goodbaby. Der weltweit größte Hersteller von Kinderprodukten in der Nähe von Shanghai lässt sich von Braungarts Firma für Internationale Umweltforschung EPEA beraten. Mr. Song will seine Dreiräder und Laufgitter, Hochstühle und Baby-Klamotten, Kinderwagen und Windeln so entwickeln, dass sie - sozusagen lebenslänglich - in einem biologischen oder einem technischen Kreislauf zirkulieren können. Anstatt nach kurzer Lebensdauer auf einer giftigen Müllhalde zu landen. Ein revolutionärer Gedanke.
Michael Braungart, 52, ist ein freundlicher, groß gewachsener Mann. Typ zerstreuter Professor mit Wuschelkopf, Brille und wachen Augen. Er lispelt ein bisschen, er redet sehr schnell. Vielleicht muss er seinen Gedanken ständig Luft verschaffen. Er ist Chemiker, Professor für Verfahrenstechnik und will nicht weniger, als dass die Menschheit noch einmal jedes Produkt völlig neu erfindet. Braungart ist keiner, dem die Größe der Aufgabe Angst macht. Einige nennen ihn noch einen Öko-Visionär. Dabei ist er längst in der harten Realität der globalen Wirtschaft angekommen. Andere sehen in dem Wissenschaftler aus Hamburg einen Retter der Welt.
Eine Welt, in der Plastikmüll-Teppiche von der Größe Deutschlands in den Ozeanen treiben. Größter Müllstrudel ist der Nordpazifikwirbel, sein Gewicht wird auf 100 Millionen Tonnen geschätzt. Laut Uno-Studie landen 6,4 Millionen Tonnen Plastikmüll in den Ozeanen - pro Jahr. Das Treibgut ist "unkaputtbar", Fische verenden darin, Giftstoffe gelangen in die Nahrungskette. Das Problem ist ungelöst. Wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn die Schweizer Konzernherren vor einem Vierteljahrhundert so wie alle anderen reagiert hätten, die von den Greenpeace-Kämpfern attackiert worden sind. Den Sicherheitsdienst losschicken, die Aktivisten verprügeln, dann die Polizei rufen und die jungen Wilden verhaften lassen. Weg damit. Braungart hat bei den Greenpeace-Aktionen damals ordentlich Prügel bezogen. "Es sind Arbeiter mit Holzstangen auf uns losgegangen. Aber in der Öffentlichkeit waren wir jedes Mal die Guten -und die anderen die Bösen."
Diesmal war alles anders. Firmenchef Alex Krauer suchte das Gespräch. "Er bat uns nach unten, es gab heißen Tee, Blumen für die Frauen und Lebkuchen mit Marzipan." Und ein Angebot. "Krauer sagte, es gehe ihm doch auch um Nachhaltigkeit", sagt Braungart. Der selbst ziemlich viel Eindruck hinterließ, als er Albert Einstein zitierte: "Kein Problem kann durch dieselbe Denkweise gelöst werden, die es verursacht hat." Krauer fragte Braungart, ob man zusammenarbeiten könne. Braungart hatte drei Jahre den Chemie-Bereich bei Greenpeace geleitet, in Argentinien und Costa Rica Leute für die Organisation eingestellt. Dieses Angebot aber war zu verlockend. Er bekam von dem Konzern zwei Millionen Dollar - und durfte zwei Jahre um die Welt reisen. Es war wohl auch die Überlegung, nach Jahren erbittertem Kampf gegen Konzerne, Dinge möglicherweise schneller verändern zu können, wenn man nicht gegen sondern einfach mit der Industrie arbeitet. Warum nicht die Gegner ins (Schlauch-)Boot holen?
"Ich erhielt Zeit, um schlaue Leute zu treffen", sagt Braungart. Er sprach mit dem Dalai Lama und Michael Gorbatschow. Er besuchte brasilianische Naturvölker und chinesische Düngemittelfabriken. Am Ende kombinierte er drei völlig unterschiedliche Lebensarten: "Die westliche und ihr analytisches Denken. Die fernöstliche und das Denken in Kreisläufen. Und die südliche Art, das Leben zu genießen." Die entscheidende Begegnung fand in New York statt. Auf einem Dachgarten in Manhattan traf Braungart bei einer EPEA-Veranstaltung William McDonough. Am nächsten Tag entwickelten der deutsche Chemiker und der amerikanische Architekt im Büro des New Yorkers die Grundzüge eines neuen Wirtschaftsmodells. Die Zufallsbegegnung zweier Vordenker war die Geburtsstunde von "Cradle to Cradle". C2C ist heute für manchen die Formel für eine neue industrielle Revolution.
Von der Wiege zur Wiege. Schon in seiner Jugend in Schwäbisch-Gmünd, sagt Michael Braungart, habe sein Vater, ein Schulrektor, immer gesagt, von der Wiege zur Bahre würde ja bedeuten, dass die ganze Welt ein Friedhof ist. Seine Waren-Welt dagegen ist vergleichbar mit einem blühenden Kirschbaum. Sein Lieblingsbild für lustvolle Verschwendung statt grimmigem Verzicht. "Alle Blüten sind Nährstoffe für andere Lebewesen oder den Boden." Diese Welt kennt nur noch zwei Arten von Produkten. Verbrauchsgüter wie Textilien oder Verpackungen, die von Anfang an so konzipiert sind, dass sie biologisch abgebaut werden können. Und Gebrauchsgüter wie Fernseher oder Autos, die der Hersteller nur für eine bestimmte Betriebszeit ausleiht. Auch sie sind so entwickelt, dass die Rohstoffe wieder in den technischen Kreislauf eingespeist werden können.
Braungarts einfaches Credo lautet: "Wir müssen die Intelligenz endlich an den Anfang der Produktentwicklung stellen." Alles andere akzeptiert er nicht mehr. Wenn ihm jemand sagt, dass es positiv sei, wenn ein Auto statt sieben nur noch drei Liter verbraucht, antwortet er: "Das ist genauso wie ein Vater, der sein Kind statt siebenmal nur noch dreimal schlägt." Warum ständig das Falsche optimieren, anstatt gleich das Richtige zu tun? Es geht ihm auch um Verantwortung. Er fordert die Entwickler auf, die gesamte Lebensdauer des Produkts zu gestalten. Demnach gehört auch die Entsorgung zum Design-Prozess. Wenn das Gift gar nicht erst in die Produkte kommt, muss man am Ende den Indern auch keine teuren Müllverbrennungsanlagen verkaufen, was für ihn eine Menschenrechtsverletzung ist.
Einzige Voraussetzung für die ewigen Kreisläufe: die Schadstofffreiheit der Produkte. 1993 entwickelt Braungart mit seinem Team das erste C2C-Produkt. Aus 8000 Chemikalien siebten die Wissenschaftler 38 aus, mit denen sie "essbaren" Polsterstoff entwickelten. Essbar, weil er für die Umwelt so bekömmlich wie ein Lebensmittel ist. "Wenn Sie mit dem Airbus 380 fliegen, sitzen Sie auf diesen Stoffen", sagt er. Seither sucht er Verbündete. Er fand sie ihn China, wo Frau Deng Nang das Buch von Braungart und McDonough "Die nächste industrielle Revolution" in die Hand bekam. Die Tochter des 1997 verstorbenen chinesischen Führers Deng Xiaoping ließ 15 Millionen Kopien drucken. Und diese hat die Vize-Ministerin des Technologie-Ministeriums den Parteikadern als Pflichtlektüre verordnet.
Auch US-Schauspieler Brad Pitt hält das Buch für eines der drei wichtigsten, die er je gelesen hat. Braungart findet das schön und flachst, er wisse ja nicht, ob Brad Pitt schon drei Bücher gelesen habe. Natürlich weiß er das, man kennt sich. Aber Braungart hat Spaß an der Provokation. So schlug er US-Präsident George Bush vor, die elektrischen Stühle in Texas der Umwelt zuliebe mit Windenergie zu betreiben. Oder erklärte glatzköpfige Skins zu "Ökos", weil sie ja weniger Shampoo verbrauchten. Braungart sagt einfach, was er denkt. Mit der Farbe Grün kann er, mit 16 Jahren Gründungsmitglied der Grünen, nichts mehr anfangen. "Es geht nicht um Grün, sondern um gut." Mit der Partei auch nicht: "Wer lange genug geprügelt wird, übernimmt irgendwann die Forderungen der Geiselnehmer."
Und Hamburg als Umwelthauptstadt sei ein besserer Witz, "Potemkin ist harmlos dagegen". Das Müllaufkommen pro Kopf sei das höchste im Land, dreimal so hoch wie in Freiburg. Aber man müsse eben unter allen Umständen die Verbrennungsanlagen füttern.
Natürlich eckt so einer an. Kritiker werfen Braungart vor, die Dinge nicht zu Ende zu denken. Seine Kreislaufwirtschaft ohne Abfall könne vielleicht regional, aber niemals global funktionieren. Wohin mit dem ganzen Kompost? Was ist mit den 99,9 Prozent des A380, die nicht aus Stoffbezügen bestehen? Braungart aber, der im Gespräch mit Zahlen, chemischen Formeln und Grenzwerten um sich wirft, sagt nur: "Ich hätte gerne mehr Kritiker." Was nachweislich wächst, ist die Zahl der Anhänger. Nike hat den Laufschuh "Pegasus" nach dem C2C-Konzept hergestellt. Die Sohle besteht aus recyceltem Gummi, das Unternehmen nimmt die alten Treter zurück. "Die Sache rechnet sich auch", sagt Olaf Markhoff, Sprecher des US-Sportartikelkonzerns. Rohstoffe würden immer teurer, mit dem Recycling schaffe man sich eine eigene Rohstoffquelle. Braungart berät Konzerne wie Ford und Philips, BASF und VW, Unilever und Elektronikhersteller in Taiwan. Arnold Schwarzenegger hat Kalifornien zum "Cradle to Cradle"-Staat ausgerufen. Die niederländische Ministerin Jacqueline Cramer will den öffentlichen Einkauf in Höhe von 40 Milliarden Euro auf C2C-Beschaffung umstellen. Belgien plant eine C2C-Initiative.
Sein prominentester Anhänger ist Steven Spielberg. Der US-Regisseur hat sich schon früh die Filmrechte an Braungarts spannender Geschichte gesichert. Und nun ist der Regisseur James Moll, der mit Spielberg die Dokumentation zum Holocaust-Film "Die letzten Tage" gedreht hat, öfters mal mit der Kamera dabei, wenn Braungart in der Welt unterwegs ist. Braungart hat noch eine Fürsprecherin. Monika Griefahn, frühere Umweltministerin in Niedersachsen. Er lernte sie bei den Schlauchboot-Aktionen kennen und nannte sie "die Königin von Greenpeace". Sie hielt ihn anfangs für einen "arroganten Schnösel", heute hat das Paar drei Kinder. Dass man sich in Deutschland mit ihm so schwertut, stört Braungart nicht. Er sagt: "Wir brauchen ja auch noch abschreckende Beispiele." Sie schon. Sie hält ihn noch immer "für den intelligentesten Menschen, den ich kenne". Nur klug sei er nicht. Weil er immer neue Lösungen präsentiere. Anstatt, wie in Deutschland üblich, Probleme aufzuzeigen.