Nach den Anschlägen vom 11. September blähte die US-Regierung ihren Sicherheitsapparat auf. Milliarden wurden investiert, Tausende Agenten eingesetzt.
Hamburg. Neun Jahre nach den verheerenden Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist das Verhältnis Amerikas zum Islam komplizierter denn je. Während christliche Fundamentalisten in Florida planen, eine Koran-Verbrennung zu inszenieren, kämpfen amerikanische Truppen in zwei islamischen Staaten, entbrennt ein heftiger Streit um die Errichtung einer Moschee unweit Ground Zero in New York und sieht sich Präsident Barack Obama gezwungen, seinem argwöhnischen Volk zum wiederholten Male zu versichern, dass er Christ und um Himmels willen nicht Muslim sei.
Obamas Vorgänger George W. Bush hatte den permanenten Krieg gegen den militanten Islamismus ausgerufen, den "Long War", der auf bis zu 80 Jahre Dauer veranschlagt wurde.
Amerika befindet sich in einem fast immerwährenden Kriegszustand. In den mehr als 230 Jahren ihrer Geschichte haben es die Vereinigten Staaten von Amerika allerdings verstanden, ihre zahlreichen Kriege meist auf fremden Territorien zu führen. Mit nur zwei Ausnahmen - dem Britisch-Amerikanischen Krieg von 1812-1814 und dem Bürgerkrieg von 1861-1865. Ansonsten haben die USA Invasionen und blutige Schlachten auf eigenem Boden nicht erleiden müssen. Der Krieg fand woanders statt, meist in Europa oder Asien. Gewiss, die Japaner hatten 1941 Pearl Harbor bombardiert, wobei 2400 GIs starben, doch dieser Stützpunkt lag auf Hawaii, weit draußen im Pazifik. Amerikas Kernterritorium galt seinen Bürgern seit Generationen als unverwundbar. Bis zum 11. September 2001.
Dies gilt es zu bedenken, wenn man den fast paranoid anmutenden Sicherheitsaufwand betrachtet, den die USA seit den Terroranschlägen vom 11. September betreiben. Fast 3000 Amerikaner auf eigenem Boden vom Feind getötet - mit Anschlägen auf das Herz und den Kopf der USA, auf New York und Washington.
Dem nahezu blindwütigen Zurückschlagen im Äußeren mit den Feldzügen in Afghanistan und im Irak entsprach der Aufbau eines bis dato nicht gekannten Sicherheitsapparats im Inneren. Mit den erheblich erweiterten Befugnissen für Polizei und Geheimdienste, destilliert im "USA PATRIOT Act", legte die Regierung von US-Präsident George W. Bush gar die Säge an die liberalen Wurzeln Amerikas. Der PATRIOT Act, vom damaligen Justizminister John Ashcroft Ende Oktober 2001 innerhalb von nur drei Tagen durch den Kongress gepeitscht, schränkt die Bürgerrechte der Amerikaner ganz erheblich ein. Dazu zählen Haft unbestimmter Länge ohne Gerichtsverfahren, Hausdurchsuchungen ohne Wissen des Betroffenen, Lauschangriffe ohne richterliche Genehmigung, Aufhebung des Bankgeheimnisses für die Ermittlungsbehörden. Das außer Kontrolle geratene Streben nach Sicherheit ermöglichte auch die Folterexzesse in dem von der US-Armee kontrollierten Gefängnis von Abu Ghraib.
Gleichzeitig etablierte die Bush-Regierung 2002 ein eigenes Super-Ministerium zum Schutz der Bevölkerung vor terroristischen Anschlägen. Das neue Heimatschutzministerium nahm 22 bereits bestehende Bundesbehörden in sich auf und wurde mit einem Jahresetat von mehr als 40 Milliarden Dollar ausgestattet. Gut 230 000 Menschen, die Einwohnerzahl einer Großstadt wie Kiel oder Magdeburg, arbeiten allein für diese Großbehörde.
Die "Washington Post" hat in den vergangenen zwei Jahren ein Team von mehr als 20 Journalisten, angeführt von den "Post"-Starreportern Dana Priest und William Arkin, auf das wild wuchernde Dickicht an Sicherheitsbehörden und ihre Arbeitsweise angesetzt. Das Ergebnis dieser aufwendigen Recherche, bei der Hunderttausende Dokumente gesichtet und Hunderte Interviews geführt wurden, ist ernüchternd und beängstigend zugleich. Der Untertitel der Enthüllungsserie "Top Secret America" lautet: "Eine verborgene Welt, jeder Kontrolle entzogen". Die "Post"-Rechercheure ermittelten, dass 1271 Regierungsorganisationen sowie 1931 Privatunternehmen, verteilt auf rund 10 000 Standorte in den USA, im System der Terrorbekämpfung und Nachrichtenbeschaffung arbeiten. Insgesamt haben inzwischen 854 000 Amerikaner den Status "Top Secret". Jedes Jahr werden mehr als 50 000 Geheimdienstberichte angefertigt, die niemand mehr alle lesen kann. Nach dem 11. September wurden 263 neue Regierungsbehörden geschaffen und der offizielle Etat der Geheimdienste auf 75 Milliarden Dollar aufgestockt. Das ist das 20-Fache des Budgets von vor 2001 und mehr, als der Rest der Welt zusammengenommen ausgibt - doch die tatsächlichen Gesamtausgaben dürften noch weit höher sein. Überall im Lande schießen neue, riesige Gebäudekomplexe mit Millionen Quadratmetern Fläche aus dem Boden, die mit Angestellten gefüllt und streng bewacht werden müssen - was Unsummen verschlingt. Apropos Geld: 51 militärische und zivile Behörden sind allein damit beschäftigt, die Finanzströme der Terrornetzwerke zu untersuchen.
Nach Analyse der "Post" arbeiten viele der Behörden parallel zueinander, in der Sturzflut der Memos und Berichte gehen häufig wichtige Meldungen unter. Allein die National Security Agency, der wohl größte Geheimdienst der Welt mit seinem gigantischen Hauptquartier Crypto City in Fort Meade nordöstlich von Washington, fängt weltweit 1,7 Milliarden E-Mails, Telefonate oder SMS ab - pro Tag. Ein Bruchteil davon wird in 70 verschiedene Datenbanken sortiert. Und die Datenbanken der diversen Behörden und Unternehmen in dem monströsen US-Sicherheitsnetz sind zumeist gar nicht miteinander verbunden.
Anfang November 2009 erschoss der Major und Armee-Psychiater Nidal Malik Hasan im texanischen Stützpunkt Fort Hood 13 Kameraden und verwundete weitere 30. Hasan stand im regelmäßigen E-Mail-Verkehr mit radikalen Muslim-Geistlichen im Jemen. Die Geheimdienste hatten diese E-Mails auch abgefangen - doch warnende Meldungen darüber gingen im endlosen Meer der Geheimdienstberichte unter. Allein in der Antiterror-Zentrale des 2004 gegründeten National Counter Terrorism Center (NTCT) gehen pro Tag rund 5000 Einzelmeldungen mit Terrorbezug ein. Niemand kann diese Menge mehr analysieren.
Und die Behörden wachsen immer weiter. Der Pentagon-Geheimdienst Defense Intelligence Agency wurde von 7500 auf 16 500 Agenten aufgestockt; aus 35 Joint Terrorism Taskforces bei der Bundespolizei FBI wurden 106. Im Pentagon, wo zwei Drittel der Geheimdienstprogramme auflaufen, hat aber nur eine Handvoll Personen - die "Super Users" - Überblick über alle Aktivitäten. Zwei von ihnen sprachen mit der "Post". "Ich kann nicht lange genug leben, um über alles informiert werden zu können", sagte der eine. Der andere berichtete, wie er in einen winzigen Raum geführt wurde, wo auf einem Bildschirm Programm nach Programm ablief, alles streng geheim. Notizen durfte er sich nicht machen. Irgendwann schrie er frustriert "Aufhören!" "Ich konnte nichts davon im Gedächtnis behalten", klagte der "Super User".
Der ehemalige Kommandeur im Irak, Generalleutnant John Randolph Vines, wurde 2009 mit der Aufgabe betraut, die Methodik der militärischen Informationsgewinnung zu analysieren. Schockiert bilanzierte Vines: "Die Komplexität dieses Systems spottet jeder Beschreibung." Ihm sei keine Behörde bekannt, die in der Lage sei, die Aktivitäten dieser ganzen Stellen zu koordinieren. Und er könne nicht beurteilen, ob dieser gigantische Sicherheitsapparat die USA tatsächlich sicherer mache. Diese ganze Geldausgeberei resultiere eher in Berichten mit unterschiedlichen Aussagen, in Verschwendung und reduzierter Effektivität.
CIA-Chef Leon Pannetta räumte ein: "Mit diesen Defiziten fahren wir gegen die Wand." US-Verteidigungsminister Robert Gates erklärte, neun Jahre nach 9/11 sei es wohl sinnvoll, sich einmal einen Überblick zu verschaffen und zu sagen: "Also gut, wir haben enorme Kapazitäten aufgebaut - aber haben wir jetzt vielleicht mehr, als wir brauchen?"
2004 hatte George W. Bush eigens eine spezielle Behörde installiert, um seinem obersten Geheimdienstberater, dem Director of National Intelligence (DNI) - seit Juli ist es der frühere Generalleutnant James Clapper - Hilfe bei der Koordinierung der Schlapphüte zu geben. Doch viele Mitglieder der aufgeblähten amerikanischen Geheimdienstlandschaft, der Intelligence Community (IC), haben nach Recherchen der "Washington Post" bis heute keine rechte Ahnung, was die 1500 Angestellten des Office of the Director of National Intelligence (ODNI) eigentlich den ganzen Tag so tun. Ein Fehler im System sei auch, dass der DNI gar keine Budgethoheit habe, die ihm erst die nötige Handlungsvollmacht in der Organisation des IC der USA verschaffen würde. So schichtete das Pentagon offenbar Milliarden Dollar munter zwischen einzelnen Etats um, damit eine effektive finanzielle Kontrolle verhindert werde.
Die Berichte der Geheimdienste dienen aber nicht nur dazu, eine Terrorbedrohung von den USA abzuwehren - sie sollen natürlich auch den amerikanischen Truppen zugute kommen, die im Kampfeinsatz stehen. Allerdings sind die Berichte ausgerechnet des Antiterrorzentrums NTCT dafür berüchtigt, lediglich schlechte Abschriften anderer Geheimdienstreports zu sein.
Bei seinem Interview mit den "Post"-Reportern demonstrierte Generalleutnant John Custer, ehemals Spionagechef im US-Zentralkommando, wie er dem damaligen NTCT-Chef, Vizeadmiral John Scott Redd, ordentlich Bescheid stieß. Rot angelaufen und drohend über den Tisch gebeugt, brüllte Custer: "Ich habe ihm gesagt, dass seine Organisation nach viereinhalb Jahren noch immer nicht ein einziges Stück Information zustande gebracht hat, das mir bei der Führung von drei Kriegen geholfen hat."
Die Dienste produzieren nicht nur oft dasselbe Material, sie wetteifern auch eifersüchtig um die besten und teuersten Spionage-Einrichtungen. Diese Hightech-Zentren werden Sensitive Compartmented Information Facility, kurz SCIF, genannt und sind zum Statussymbol der Intelligence Community geworden. Bruce Paquin, Experte für den Bau solcher Anlagen, sagte: "Jeder in Washington redet nur noch von SCIF, SCIF, SCIF. Du bist kein großer Junge, wenn du nicht ein Dienst mit drei Buchstaben bist und einen großen SCIF hast. Die haben da so ein Penisneid-Ding laufen."
Ein Drei-Sterne-General sagte, offenbar nicht völlig frei von Neid: "Hier findest du keinen Vier-Sterne-General ohne Sicherheitseskorte. Da heißt es: 'Wenn der eine hat, will ich auch eine.'" Auch dies sei ein Statussymbol in der Geheimdienstwelt.
Und wie sieht der Gegner dieser gigantischen Maschinerie aus? Das US-Magazin "Newsweek" schildert in seiner aktuellen Titelgeschichte die Rekrutierung von kleinen Jungen für al-Qaida und die Ausbildung eines afghanischen Knaben zum Kämpfer und Selbstmordattentäter. Aus westlicher Sicht ein hartes, elendes Leben. "Newsweek" zitiert den Leiter des Antiterrorzentrums NTCT mit den Worten, in den ganzen Stammesgebieten an der afghanisch-pakistanischen Grenzregion gebe es kaum mehr als 300 Al-Qaida-Kämpfer. CIA-Chef Leon Panetta bezifferte die Personalstärke des Terrornetzes am Hindukusch im Juni gar auf nur 50 bis 100 Mann.
Fareed Zakaria, Chefredakteur von "Newsweek International" und einer der prominentesten Fernsehjournalisten der USA, schreibt, ein hochrangiger Geheimdienstmann habe ihm gegenüber zugegeben, viele dieser 50 000 Berichte, die die gewaltige Intelligence Community Amerikas im Jahr produziere, könne man "in einer Stunde herstellen, indem man Google benutzt".
Die USA hätten die Stärke des Terrornetzes massiv übertrieben, schreibt der Journalist: "Die beste Hoffnung von al-Qaida ist es doch, einen verwirrten jungen Mann zu finden, der über das Internet radikalisiert wurde - und ihm beizubringen, wie er seine Unterhose mit Sprengstoff vollstopft." Warnend zitiert Zakaria James Madison (1751-1836), einen der Gründerväter der USA und deren 4. Präsident: "Keine Nation vermag ihre Freiheit inmitten eines fortwährenden Krieges zu bewahren."