Teil 4: Während Bewohner der Nordseeküste Vorkehrungen gegen die drohende Sturmflut trafen, blieb man in Hamburg gelassen.

Hamburg. Der diensthabende Meteorologe im Institut für Meteorologie und Geophysik in Berlin-Dahlem an diesem 15. Februar 1962 hieß Dr. Gerd Hoffmann. Er war 38 Jahre alt, und er wunderte sich, was aus der ursprünglich kleinen Front im Norden Kanadas zwischen den kalten Luftmassen der Polarzone und den warmen subtropischen Strömungen entstanden war. Sie hatte sich in nicht einmal 24 Stunden gewaltige Mengen an Kaltluft einverleibt, die sie zu einem Orkan aufpumpte, der nun - aufgeladen mit der Energie von mehreren Wasserstoffbomben - auf dem Weg zur Deutschen Nordseeküste war.

Die ersten Ausläufer hatten bereits Schottlands Hauptstadt Edinburgh erreicht, während sich das Sturmzentrum noch rund 150 Seemeilen nordwestlich der Shetlandinseln über dem Atlantik befand. Um dieses gigantische Sturmtief zu taufen, musste Hoffmann bloß eine zerfledderte Kladde mit verschiedenen Listen weiblicher und männlicher Vornamen von A bis Z aufschlagen. Diesen "Spaß" hatten sie von den Amerikaner übernommen: Frauennamen standen für schlechtes, Männernamen für gutes Wetter. Der Buchstabe V war dran - "Vincinette". Ein schöner, aber auch ein vielversprechender Name, dachte Hoffmann und jagte die komplette Wettervorhersage per Fernschreiben an die Nachrichtenagenturen und Funkhäuser raus.

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+++ Das Hamburger Abendblatt vom 15. Februar 1962 +++

Seit Jahrhunderten führten die Küstenbewohner bereits den Kampf gegen die Naturgewalten. Sie wussten, was zu tun war. Entlang der gesamten norddeutschen Küste, vom Jadebusen über Bremen, Cuxhaven bis hinauf nach Emmelsbüll-Horsbüll in Nordfriesland wurde in vielen Landkreisen schon früh Katastrophenalarm ausgelöst. Tausende Helfer vor Ort - Bundeswehr, Grenzschutz, die Bereitschafts- und Ordnungspolizei, Feuerwehren, das Deutsche Rote Kreuz, das Technische Hilfswerk sowie die vielen Freiwilligen - schleppten aus den Depots Sandsäcke an die Deiche, um entstandene Schäden bis zum nächsten Hochwasser provisorisch zu reparieren und vermutete Schwachstellen zu verstärken. Man brachte mit gegenseitiger Nachbarschaftshilfe sein Hab und Gut in Sicherheit und dichtete die Häuser ab. Darüber hinaus wurden besonders gefährdete Gebiete evakuiert. Dies betraf 6000 Menschen. "Vincinette" sollte ruhig kommen, an den Küsten würde man gerüstet sein ...

Hermann Westphal, der 49-jährige neue Leiter des Ortsamtes Wilhelmsburg, konnte es sich selbst nicht erklären, warum er sich in den vergangenen Tagen so intensiv mit dem Hochwasserschutz beschäftigt hatte. Aber seine Heimat Wilhelmsburg lag ja nun mal wie ein dünner Pfannkuchen mitten im Elbstrom, und er traute den Deichen nicht. Seiner Meinung nach schwebten in der alljährlichen Sturmsaison Zehntausende in Lebensgefahr - vor allem diejenigen, die aufgrund einer Sondergenehmigung des Senats noch immer als "Dauersesshafte" in einer der Schreberkolonien wohnten: in Behelfswohnheimen, die nach dem Hamburger Feuersturm 1943 am südlichen Ufer der Elbe errichtet worden waren und die häufig bloß auf Ziegelsteinen oder Holzbohlen standen. Hier lebten vorwiegend ausgebombte Familien, ältere Menschen, Spätheimkehrer sowie deutschstämmige Aussiedler aus den Ostgebieten; Menschen, die sich gerade mal die niedrige Pacht an die Stadt leisten konnten und für die der Sozialdemokrat Hermann Westphal sich besonders verantwortlich fühlte. So wie für die vierköpfige Familie Pflug, die schon im zehnten Jahr am oberen Rand des Maakenwerder Grunds in einer festen Laube wohnte, die sie beinahe schon zu einem richtigen Haus ausgebaut hatte, mit Fundament. Für die Geschwister Karin und Reinhard war das Elbufer ein großer Abenteuerspielplatz. Die meisten ihrer Spielkameraden wohnten allerdings unten "im Grund"; so wie die Schwedlers, mit denen die Pflugs eng befreundet waren, so wie die Großfamilie Bennewitz und etwa 50 weitere Familien: Sie alle saßen auf Marschland, fast schon unterhalb des Wasserspiegels der Elbe. "Wenn da das Wasser über 'n alten Schutzdeich rüberkommt", hatte Reinhard Pflug senior einmal beim Kegeln orakelt, "rinnt es bei uns nur durch: Aber ihr sitzt dann in der größten Badewanne von Hamburg." Sein Freund Karl Schwedler hatte zurückgefeixt, dass er so wenigstens Badewasser sparen könnte.

Vielleicht wäre ihnen das Grinsen vergangen, wenn sie wie Hermann Westphal gewusst hätten, dass die geforderte Mindesthöhe der Deiche (5,65 Meter), die in der Deichordnung aus dem vergangenen Jahrhundert festgelegt war, häufig bloß noch auf dem Papier existierte. Denn viele der Deiche in Hamburgs Süden waren bis zu einen halben Meter abgesackt. Andere waren durch den ständigen Hafen- und Verkehrsausbau lediglich durch "ähnlich hohe Dämme und Aufspülungen" ersetzt worden. Doch in den sieben Hamburger Deichverbänden hatten nach wie vor die Optimisten das Sagen: Denn die letzte (wirklich) hohe Sturmflut (5,14 Meter über Normalnull), die 1825 rund 100 Quadratkilometer des Hamburger Gebiets überschwemmt hatte, war schon 137 Jahre her. Seitdem hatte man in der Hansestadt Ruhe vorm Wasser gehabt. Von welcher Gefahr redeten denn bloß immer die Leute? Warum gab die Stadt gerade 15 Millionen Mark für die Deichsanierung aus? Hermann Westphal wusste, warum ...

Auf Dr. Hans-Otto Mertins Schultern ruhte an diesem 15. Februar eine schwere Last: Er hatte sich schon immer darüber geärgert, dass es den absolut zuverlässigen Wetterbericht niemals geben würde. Jetzt, um 20.15 Uhr, musste er die allabendliche Norddeich-Radio-Vorhersage diktieren, für die er allein verantwortlich war. Andere Kollegen würden das Wort "Sturmwarnung" erst in den Mund nehmen, wenn die Kirchturmkuppel des Michel am Bürofenster vorbeisegeln würde, doch er hatte sich zu einer "offiziellen Sturmwarnung" entschlossen, mit der er nun den gesamten Hamburger Behördenapparat in erhöhte Alarmbereitschaft versetzen würde. Am liebsten jedoch hätte Mertins (berechtigterweise!) eine Orkanwarnung formuliert, aber dies wäre äußerst gewagt gewesen. Für einen Meteorologen gab es nichts Peinlicheres, als Alarm zu schlagen, wenn dies am Ende nicht notwendig war. So ging "nur" seine Sturmwarnung pünktlich um 21 Uhr über die riesigen Sendemasten von Norddeich-Radio in die Welt hinaus: "Für die nördliche und mittlere Nordsee sowie die Deutsche Bucht besteht Sturmwarnung. Windstärke neun, zunehmend, in Böen bis elf ..."

Den ahnungslosen Menschen in den südlichen Hamburger Stadtteilen blieben jetzt noch rund 27 Stunden bis zur Katastrophe.