Teil 3: Im Verlauf des 14. Februar 1962 wurde es für die Menschen immer deutlicher, dass einer der bis dahin stärksten Orkane im Anmarsch war.

Hamburg. Für den Meteorologen Peter Emmerich an Bord des Fischereischutzschiffes "Meerkatze" war es die vierte Fahrt, für das Schiff selbst der 100. Törn ins "Gatt", die Fanggründe zwischen Island, Schottland und Grönland. Es war der 14. Februar 1962, kurz vor 10 Uhr morgens. Sie stampften etwa 120 Meilen vor der norddeutschen Küste durch die sieben bis acht Meter hohen Wellen der Nordsee. Die Wetterdaten der Messstation draußen an Deck zerstreuten bei Emmerich jede Hoffnung: Es würde bestimmt nicht ruhiger werden. Es herrschte Windstärke neun, in Böen elf. Der Luftdruck war auf 970 Millibar gefallen, die Lufttemperatur betrug ein Grad, die des Wassers sechs Grad. Die Farbe des Himmels hatte sich in ein uneinheitliches Grau aus Wolkenfetzen verwandelt, das bereits vor dem Horizont mit dem Meer verschwamm. Die Schaum- und Gischtspritzer flogen übers Deck wie Luftgewehrkugeln. Emmerich kämpfte sich mühsam übers glitschige Deck zurück in die warme Funkerkabine, wo Willy Kühn, der langjährige Bordfunker der "Meerkatze", Dienst schob, seine unvermeidliche Pfeife zwischen den gelben Zähnen.

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"Ist das ein Sauwetter", stieß Emmerich hervor. Er schälte sich aus dem gelben Ölzeug heraus und schüttelte sich wie ein nasser Hund. "Ich muss 'ne Sturmwarnung rausgeben, sofort!"

"Oha!", sagte Willy Kühn mit wichtigem Gesicht, setzte die Kopfhörer auf und stellte auf der Funkskala die Fischereiwelle ein, Kanal 23.

"Es sieht wirklich übel aus", meinte Emmerich und zwängte sich hinter den Kartentisch, um mit einem dünnen Bleistift die aktuellen Messwerte und Isobaren in die Wetterkarte einzutragen. Hastig kritzelte er dann die Sturmwarnung auf einen Spiralblock und reichte sie dem Funker. "Oh, là là", soll Kühn damals gesagt haben, "da wird der Klabautermann seine Freude haben!"

Auch auf dem Festland ahnten zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Menschen den Orkan der Superlative. Dr. Kurt Ehlers, Direktor der Bremerhavener Tiergrotten, einem kleinen und beliebten Familienzoo, der direkt ans Ufer der Weser grenzte, hatte durch intensives Beobachten gelernt, das Angstverhalten der Tiere als unfehlbares Alarmsignal zu deuten. An diesem Morgen waren zunächst überdurchschnittlich viele Seemöwen über Bremerhaven aufgetaucht. "Von wegen Wetterberuhigung", hatte er gedacht und die Zeitung kopfschüttelnd zur Seite geschoben. Denn auch im Zoo wurden die Tiere zunehmend unruhig: Die Raubkatzen strichen aggressiv durch ihre Gehege, die Karpatenbären hatten sich apathisch in die hinterste Ecken ihrer künstlichen Höhle verzogen, und im Affengehege tobten erbitterte Kämpfe. "Ich bin sicher, die Tiere würden jetzt alle am liebsten abhauen!", sagte Kurt Ehlers zu seinem Tierpfleger Willi Barthelsen, der ihn auf seinem Rundgang begleitete. Barthelsen nickte. Manchmal war ihm der Doktor geradezu unheimlich. "Wir sollten vielleicht mit ein paar Männern im Zoo übernachten, Bartelsen", schlug sein Chef vor, "ich hab kein gutes Gefühl ..." Er warf einen misstrauischen Blick auf die Mauer, die den Zoo sicherlich vor neugierigen Blicken schützen konnte. Aber bestimmt nicht vor einer gigantischen Sturmflut.

Auch an anderen Orten in Norddeutschland wurden an diesem Tag erstaunliche Phänomene beobachtet: Bei Lemwerder landeten Dutzende wilder Schwäne auf der Weser und flogen nach einer kurzen Verschnaufpause landeinwärts weiter. Im schleswig-holsteinischen Braderup wurde in einem Hühnerstall ein erschöpfter Krabbentaucher entdeckt, der normalerweise nur an den felsigen Küsten Grönlands und Islands lebte. In Bergenhusen bei Rendsburg hatte sich zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert wieder ein Seeadler blicken lassen, und in den Vogelschutzgebieten nahe Lüneburg flatterten plötzlich Hunderte von Alks herum, die doch in Nordskandinavien und auf Island zu Hause waren.

An den norddeutschen Stränden wurden an diesem Tag so viele Heuler wie noch nie angetrieben, bei Kappeln entdeckten die Fischer einen riesigen Heringsschwarm in der Schlei - allerdings sechs Wochen vor der eigentlichen Laichzeit, und in vielen Küstenorten kam es gegen Nachmittag zu pelzigen Prozessionen: Zu Tausenden kamen Ratten und Mäuse aus den Gängen und Löchern, die sie in die Deiche gegraben hatten und flüchteten, nun auch gejagt von den Einheimischen mit Plattschaufeln.

Die Sturmflutexperten des Deutschen Hydrographischen Instituts in Hamburg verließen sich dagegen auf ihre Vorausberechnung der Gezeiten nach den Positionen von Mond und Sonne, die Beobachtung der Pegel sowie die Meldungen der Meteorologen des Hamburger Seewetteramts. In einigen Amtsstuben zog man vorsichtshalber schon einmal die "Hamburger Polizeiverordnung" vom 10. August 1955 aus der Schublade, in der die "Handhabung" des "Sturmflutwarndienstes im Hamburger Hafen" beschrieben wurde: "Sobald in Cuxhaven ein Wasserstand von 1,30 Meter über dem mittleren Hochwasser eintritt, werden am Stintfang, am Stadtdeich und in Finkenwerder zwei schnell aufeinanderfolgende Warnschüsse abgegeben. In der Regel ist nach der Schussabgabe drei Stunden später in Hamburg ein Wasserstand von 1,40 Meter zu erwarten (...) Das Signal wird wiederholt, sobald Cuxhaven einen Wasserstand von 2,00 Meter höher als mittleres Hochwasser meldet (...) Sofern in Cuxhaven der Wasserstand 2,50 Meter höher als mittleres Hochwasser gestiegen ist, wird dies durch je einen Warnschuß von den drei genannten Stellen angezeigt."

Die Erfahrung hatte die Hamburger jedoch gelehrt, dass solch ein Sturmflutalarm zumeist höchstens ein paar überschwemmte Keller und Straßen bedeutete. Daher zeigte sich die Bevölkerung von der Böllerei auch nur wenig beeindruckt.

Auch 50 Jahre später werden Sturmfluten nach dem Unterschied zum mittleren Hochwasser bewertet: Heute spricht man ab 1,5 Meter Pegelstand über dem MTHW von einer Sturmflut, ab 2,5 Metern von einer schweren Sturmflut und ab 3,5 Metern von einer sehr schweren Sturmflut.

Bereits bei einer Sturmflut werden der Fischmarkt oder auch der Anleger Neumühlen überschwemmt. Das sorgt für spektakuläre Bilder und Touristen, die ihr Auto trotz Warnhinweisen dort geparkt haben. Denn anders als 1962 würde die Bevölkerung heute bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt über Radio, Fernsehen und das Internet vor einer Sturmflut gewarnt. An diesem Abend des 14. Februar 1962 standen behördenintern die Zeichen bereits auf Sturm. Doch die Bevölkerung war ahnungslos. Und das würde sie auch bleiben, bis die Hamburger Deiche brechen würden - in nicht einmal 48 Stunden.