Teil 2: Heute vor 50 Jahren braute sich ein Sturmtief zusammen, das eine Katastrophe bringen sollte. Experten wollten aber keine Angst schüren.
Hamburg. Das Hamburger Seewetteramt des Deutschen Wetterdienstes (DWD) residierte schon vor 50 Jahren in dem mächtigen Rotklinkerbau an der Bernhard-Nocht-Straße, zwölf Meter über dem Elbufer. Daneben liegt das ehemalige Deutsche Hydrographische Institut (DHI, heute Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, BSH). Beide Häuser besitzen noch immer eine Verbindungstür in der zweiten Etage; sie unterstehen heute dem Bundesverkehrsminister.
Am Morgen des 13. Februar 1962 lag hinter dem 47 Jahre alten Seemeteorologen Dr. Hans-Otto Mertins eine zwölfstündige Nachtschicht. An den Schichtdienst an Land musste er sich noch gewöhnen. Mehr als 60 Reisen hatte er als Bordmeteorologe allein auf der "Meerkatze" absolviert, einem 660 BRT großen Fischerschutzboot, das die deutschen Hochseefischer auf ihren Fahrten in die nördlichen Fanggründe begleitete und neben Schleppvorrichtung für in Seenot geratene Trawler und einer Krankenstation auch eine Wetterstation an Bord hatte. Ein Meteorologe des Deutschen Wetterdienstes funkte mehrmals täglich die aktuellen Wetterdaten nach Hamburg - eines der wichtigsten Puzzleteile, aus denen sich die Vorhersagen zusammensetzten.
Am Vortag hatte bereits ein Sturm der Stärke zehn bis elf das Wasser in die Elbmündung hineingedrückt und zwei Sturmfluten verursacht: Das Abendhochwasser in Hamburg hatte dabei mit 2,48 Meter über dem mittleren Hochwasser den höchsten Pegelstand seit 1954 erreicht. Elbabwärts, im Land Hadeln bei Otterndorf sowie an der Oste hatte es kleinere Deichbrüche gegeben. Für den heutigen Tag hatten die Meteorologen zwar eine Wetterberuhigung vorhergesagt, doch die Lage hatte sich in der Nacht dramatisch geändert.
Pünktlich um 7 Uhr betrat Mertins' Ablösung Dr. Gerd Rödiger das Büro. "Irgendetwas Besonderes?", fragte sein Kollege fröhlich.
"Leider ja", antwortete Mertins. "Wir haben uns gestern wohl gründlich geirrt. Das Tief aus der Dänemarkstraße hat sich stark vergrößert und ist auf der Rennstrecke ..." Die "Rennstrecke der Zyklonen" - das ist die Sturmbahn von den Fischfanggründen des "Gatt", zwischen Island, Schottland und Irland gelegen, zur Nordseeküste.
Gerd Rödiger überflog rasch die neuen Wetterdaten. "Vor drei Tagen war es doch noch eine Stecknadel", sagte er nachdenklich "aber jetzt dieser rapide Druckabfall: Das sieht in der Tat ganz schön bedrohlich aus."
"Tja, ein typisches Skagerraktief", meinte Mertins vorsichtig. Beide Wissenschaftler kannten das ungeschriebene Gesetz, mit Sturmwarnungen sehr sensibel umgehen zu müssen, um ja keine Angst zu schüren ...
Meteorologen unterscheiden mehrere Typen nordeuropäischer Tiefdruckgebiete: Da ist zum einen das seltene Jütland-Tief, das den 8. Längengrad etwa zwischen dem 55. und 57. nördlichen Breitengrad überquert; ein kurzer, aber heftiger Sturm, der an der schleswig-holsteinischen und dänischen Westküste zu hohen Wasserständen führt.
Sturmtiefs vom Typ Skagerrak dagegen sind die häufigsten. Sie überqueren den 8. Längengrad zwischen dem 57. und 60. nördlichen Breitengrad und verstärken die Gezeitenwelle aus der nördlichen Nordsee und verursachen zumeist lange und schwere Sturmfluten. Wenn sich so ein Tief beim Überqueren des Atlantiks jedoch zusätzlich noch mit Wasser auffüllt, kann es eine Zeit lang beinahe zum Stillstand kommen. Die Folgen können extrem unangenehm werden: Da der Wind nun besonders lange auf die Wasseroberfläche des Meeres einwirkt, entsteht Windstau. Diese Sturmtiefs überqueren den 8. Längengrad zwischen dem 60. und 65. nördlichen Breitengrad, verursachen lang andauernde Stürme und sind fast immer die Vorboten einer schweren Sturmflut.
Auch 50 Jahre später stammen im Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie, das schon als "DHI" zuständig für Sturmflutwarnungen war, noch viele Utensilien aus jener Zeit. So wie das schwarze Telefon mit Handkurbel. "Wenn der Strom ausfällt, ist es der direkte Draht zur Hafenverwaltung", sagt Sylvin Müller-Navarra, den seine Kollegen ehrfurchtsvoll den "Wasserstandspapst" nennen, und lächelt. Auch der wuchtige Aktenschrank und der hölzerne Besucherstuhl versprühen den Charme der 60er-Jahre.
"Die Vorhersagemodelle sind natürlich deutlich besser geworden", sagt Müller-Navarra, in Kürze werde zum Beispiel eine neue Vorhersage online gehen, die automatisch mit etlichen Pegelständen arbeiten und zügig über erwartete Flutwellen und Scheitelpunkte informieren könne. "Aber jede Sturmflut verläuft anders, und daher sind noch immer Berechnungen durch Menschen notwendig, weil Naturkräfte sich eben nicht immer so verhalten, wie es die Computer gerne hätten." Ebbe und Flut entstehen durch die Anziehungskräfte von Mond und Sonne, wobei der nähere Mond stärker wirkt. Und weil sich die Erde dreht, treten an unserer Küste pro Tag zweimal Hochwasser und zweimal Niedrigwasser auf. Manchmal "stören" sich aber auch die Kräfte von Sonne und Mond gegenseitig: Der Tidenhub (der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser) ist dann besonders gering oder eben auch besonders ausgeprägt, etwa während einer "Springtide".
Außerdem können sogenannte Fernwellen aus dem Atlantik den Wasserstand um etwa 50 Zentimeter anheben. Doch die entscheidenden Faktoren für den Pegelstand in Hamburg seien der Wind und die Windrichtung in der Deutschen Bucht, sagt Müller-Navarra. "Gefährlich wird es, wenn es in den letzten vier Stunden bis zum Hochwasser in Cuxhaven da draußen aus West bis Nordwest so richtig bläst." Dann staue sich die Flutwelle auf, und nach etwa dreieinhalb Stunden erreiche sie die Stadt. In einer solchen Situation käme es vor allem auf die Einschätzung der Gefahr durch den Menschen an: Verändert sich die Zugrichtung des Tiefs? Flaut der Wind ab, oder nimmt er zu? Das kann kein Supercomputer beantworten. "Auch wenn die Berichte vom Klimawandel nahende Katastrophen suggerieren, hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht viel geändert", sagt Müller-Navarra.
Die Sturmfluten seien weder höher noch stärker geworden. "Auch die viel kritisierten Elbvertiefungen haben nur minimale Auswirkungen auf Sturmfluten", sagt er. Zwar habe der massive neue Deichbau nach 1962 die Elbe eingeengt und für etwa 50 Zentimeter höhere Wasserstände gesorgt. "Aber dafür besitzt man nun auch etwa zwei Meter mehr Deichhöhe!"
Diesen Schutz hatten die Hamburger im Februar 1962 noch nicht. Das neue Sturmtief hatte sich naturgemäß auf seinen Weg gemacht. Es hatte noch keinen Namen, doch schon bald sollte es "Vincinette" getauft werden. Der ahnungslosen Stadt blieben jetzt noch rund 90 Stunden bis zur Katastrophe.