Zum ersten Mal seit 15 Jahren könnte sich die Alster wieder in einen Platz des Eisvergnügens verwandeln. Ein Ereignis so schön wie selten.
Es gibt Momente, die vergisst man nicht. Etwa wenn sich dem Betrachter, der auf dem Michel steht, eine Stadt zu Füßen legt, brennt sich das Bild Hamburgs tief ins Herz und Hirn ein. Wer sich zum ersten Mal in die Fluten der Elbe wagt, wird diesen Fluss lieben lernen. Und wer plötzlich über das Wasser zu gehen vermag, beginnt das Wunder Hamburg zu verstehen. Am Wochenende könnte es endlich wieder so weit sein - erstmals seit 15 Jahren.
Dann könnte das Alstereisvergnügen steigen: ein Volksfest, um das der Rest der Republik die Hansestadt beneidet, das einen Fluss in ein Eismeer, eine Wasserfläche in ein Menschenmeer verwandelt. Ein Ereignis, das jüngere Hamburger nur noch vom Hörensagen kennen. Damals, beim letzten Eisvergnügen Anfang Januar 1997, regierte Henning Voscherau die Stadt, das Internet war eine Spielwiese für Freaks, und nach der Hinrunde der Bundesligasaison lag der FC St. Pauli einen Platz und Punkt vor dem HSV.
Verdammt lang her. Die Kinder, die damals über das Eis jachterten, sind längst erwachsen. Und die Studenten von damals hoffen nun, sich mit ihren Kindern auf die Alster wagen zu dürfen.
Heute entscheidet Messung über das Eisvergnügen
Behörde erlaubt Betreten der Außenalster
Nach 1997 - das ist der gefühlte Klimawandel auf hamburgisch - reichte es zwar immer mal wieder zu einer geschlossenen Eisdecke, von den behördlich geforderten 15 Zentimetern Eisdichte aber blieb seitdem jeder Winter weit entfernt. Bis vor zwei Jahren das Eisvergnügen endlich zum Greifen nahe schien.
Der Januar 2010 war über Wochen extrem kalt gewesen. Doch mehrfach verschärfte die Umweltbehörde die Bedingungen für das Fest: Statt 15 Zentimeter Eisdicke wie zuvor waren nun 20 Zentimeter nötig; und als diese Stärke fast gefroren war, zauberten die Verantwortlichen das Kriterium "blasenfreies Kerneis ohne Schnee und Lufteinschlüsse" aus dem Hängeregister.
Das Ergebnis ist bekannt und erwischte die Eisfans kalt. Gefeiert wurde ein kleines Alstereisvergnügen - was allerdings eher die Miniatur-Wunderlandausgabe des großen Volksfestes von einst war. 75 000 Menschen, ein Bruchteil verglichen mit 1997, stürmte das Eis, auf den Budenzauber mussten sie ganz verzichten. An den Ufern entlang der Außenalster von der Kennedybrücke bis zur Barcastraße erlaubte das Bezirksamt Mitte, am Wochenende zehn Glühweinstände aufzubauen. Mit diesem Zugeständnis hatte sich Bezirksamtsleiter Markus Schreiber schon auf dünnes Eis begeben. Denn in jenem Winter regierten schwarz-grüne Spaßbremsen im Rathaus. Aus Angst vor der Verantwortung, aber auch aus Skepsis gegenüber jeder vermeintlich unökologischen Großveranstaltung. Das Abendblatt kommentierte damals: "Es ist politisch verständlich, dass die Behörde auf Nummer sicher geht und jedes Restrisiko ausschließen will. In einer Gesellschaft, die Gefahren gern überhöht und Chancen übersieht, war nichts anderes zu erwarten - zumal vermutlich schon die ersten Anwälte Klagen für den Fall der Fälle vorbereiten. Doch was politisch verständlich ist, ist noch lange nicht klug: Mit der Absage des Alstereisvergnügens siegt der Kleinmut über den Mut, präsentiert sich Hamburg nicht als Stadt der Lebensfreude, sondern der Bedenken."
Bedenkenträger in den Behörden gab es auch zu früheren Zeiten, doch stets obsiegte zugleich das Anarchische im Hamburger. Zitieren wir einen seligen Kollegen, der 1748 in den "Poetischen Neuigkeiten" dichtete: "Will jemand Kluge unter Thoren und Männer und Kindern sehen, der darf nur nach der Alster gehen, da wird aus bloßer Lust gefroren."
Fakt ist: Ein Eisvergnügen dürfte so alt sein wie der See, der doch nur ein gestauter Fluss ist. Entstanden ist der städtische Binnensee 1190 unter Graf Adolf III. Spätestens jedoch seit dem 15. Jahrhundert, als Europa die Kleine Eiszeit erlebte, gehörte Eis auf der Alster zur Normalität im Winter. Die Chronisten erzählen etwa von einem Eisschiff, das 1687 nach holländischem Vorbild die Hamburger begeisterte. Die Bilder des niederländischen Malers Pieter Bruegel, dessen Winterlandschaften Eisläufer zeigen, hätten vermutlich auch in Hamburg entstehen können. Spätestens Anfang des 17. Jahrhunderts sollen Matrosen den Kufensport aus Holland an die Alster gebracht haben. Schlittschuhlaufen, Eisbosseln und Schlittenfahren galten fortan als besonderes Vergnügen. 1733, so belegen Quellen, soll ein Pferdeschlittenkarussell das Hauptereignis auf der Alster gewesen sein. 1816 versuchten die Behörden unter Androhung einer Arreststrafe "das Gehen und Schlittschuhlaufen auf der Alster" zu verbieten. Lange ließen sich die Hanseaten von derlei Verboten nicht stoppen.
In einigen Jahren konnte man dem Eisvergnügen sogar monatelang nachgehen - mitunter sogar auf der Elbe, die über Wochen zufror. 1829 soll die Alster rund 100 Tage einen Eispanzer getragen haben, genau 100 Jahre später erstarrte die Alster noch länger. In diesem Jahr, das später als Datum für die Weltwirtschaftskrise in die Geschichte einging, wurde heftig gefeiert. Aus Skandinavien war der Wintersport Skijöring nach Hamburg geschwappt - eine Art Eisski, bei dem tollkühne Skifahrer von Pferden gezogen wurden. Bilder zeigen mit Fahnen geschmückte Buden, die Met, Grog und Bier feilboten.
In diesem Jahr unternahmen Hamburgs Behörden erste Belastungstests für das Eis. Zwölf bis 16 Zentimeter, so die Gelehrten damals, hielten "Reiter, Wagen und sogar leichte Artillerie" aus. Trotzdem schloss man im selben Jahr eine generelle Freigabe der Alster in Wintertagen aus, das Betreten des Flusses erfolgte stets auf eigene Gefahr.
Der Zweite Weltkrieg bereitete dem Eisvergnügen ein jähes Ende. Um die britische und amerikanische Luftwaffe zu irritieren, wurde auf der zugefrorenen Alster im Winter 1941 ein Tannenwald gepflanzt. Auch in den Jahren danach passten Lustfeste auf dem Eis nicht in die Zeit - obwohl viele kalte Winter folgten. Im Februar 1956 fror die Alster zwar großflächig zu; man durfte sie aber nicht betreten, weil Kohlenschleppzüge passieren mussten.
Bis zur Wiederkehr des Budenzaubers mussten die Hamburger bis zum Jahrhundertwinter 1979 warten. Damals betonte die Behörde zwar, sie könnte das Eis nicht freigeben, weil sie dann das Risiko tragen müsste. Das Risiko nahmen die Hamburger aber angesichts der sibirischen Wetterverhältnisse gern auf sich. Damals bevölkerten erstmals Glühweinhändler und Eissegler den See; der Winter inspirierte Michy Reincke zu seinem späteren Hit "Nächte übers Eis".
1985 und 1986 folgten gleich zwei harte Winter aufeinander. Das Eisvergnügen wuchs, bald standen 300 Stände auf der Alster, ein NDR-Club-Wunschkonzert auf dem Eis, beziehungsweise ein tonnenschweres Feuerwerk krönte das Wintermärchen. 1986 konnten die Hamburger sogar drei Wochenenden in Folge feiern, sogar noch am 1. März. 1987 reichte es immerhin für ein kurzes Alstereisvergnügen im Januar.
Vier Jahre später gab es erneut die Gelegenheit zum Eistanz im Herzen der Stadt - und die Berichte in den Zeitungen spiegeln Zeitgeschichte. Auffälligerweise betonten mehrere Journalisten 1991, dass das Alstereisvergnügen die "Trennung zwischen Ost- und Westufer, zwischen dem Schickimickiviertel Pöseldorf und Winterhude" aufhob. Ein halbes Jahrzehnt darauf - 1996 fand das Alstereisvergnügen sowohl Anfang Januar als auch an zwei Februar-Wochenenden statt - gehörte Gesellschaftskritik zum guten Ton. "Warum erfror die Phantasie?", lautete im Februar 1996 die Überschrift zur Punsch-Party im Abendblatt, die Müllmenge wurde gewogen und für zu schwer befunden.
In diesem Jahr tauchten erstmals Probleme auf. Am Sonnabend, dem 6. Januar 1996, waren rund 100 000 Menschen auf der Alster, als das Eis am Fähranleger Alte Rabenstraße plötzlich Risse bekam und Wasser aufs Eis quoll. Die Risse pflanzten sich fort, das Eisvergnügen musste abgebrochen werden. Polizeihubschrauber forderten die Menschen zum Verlassen des Eises auf, doch wegen des Windes verstand niemand die Durchsagen. So feierten die Hamburger weiter, es passierte nichts. Der Begeisterung tat das keinen Abbruch - im Gegenteil: Anfang Januar 1997 stürmten eine Million Menschen die Winterparty, ein Rekord.
Doch so schön die Eisparty auch ist, die Alster entfaltet einen besonderen Reiz auch abseits des Budenzaubers, in stillen Stunden unter der Woche. In der Mittagszeit zogen gestern Hunderte übers Eis. Studenten, denen der obligatorische Kaffeepappbecher an den Händen festgefroren scheint, bummeln über den Fluss, Hunde jagen ihrem Herrchen voraus übers Eis, Familien schießen Erinnerungsfotos für das Familienalbum. Die Halbstarken wagen sich an die Fahrrinne der Alsterfähren, wo sie noch Gefahr wähnen und Herkulesspielchen mit armlangen Eisschollen frönen können. Schlittschuhläufer gleiten übers Eis, zumindest dort, wo Schneeflächen sie nicht bremsen.
Sie alle beleben Hamburgs neue Mitte. Die Alster verwandelt sich in einen Tummel-, Sport- und Spielplatz, sie wird zur Flaniermeile, zum Laufsteg, zur Rodelbahn. Die Stadt lebt auf, und zugleich steht sie still. Denn Schnee und Eis schlucken die Geräusche, vereinzeltes Hundegebell und Lachen dominieren das Herz einer Millionenstadt.
Und alle verbindet das Gefühl für den besonderen Moment, den Zauber des Nicht-Alltäglichen. Jeder weiß um die Vergänglichkeit des Alstereises.