Chantal war am 16. Januar nach der Einnahme des Heroin-Ersatzstoffes Methadon gestorben. Die Pflegeeltern nehmen seit Jahren an einem Methadon-Programm teil. Gegen sie und den leiblichen Vater des Mädchens besteht der Verdacht der fahrlässigen Tötung. Ferner hat die Staatsanwaltschaft nun ein Ermittlungsverfahren gegen die Jugendhilfe-Einrichtungen eingeleitet. „Wir ermitteln gegen bislang unbekannte Mitarbeiter des Jugendamtes und des Trägers wegen des Verdachts der Verletzung der Fürsorgepflicht“

Wilhelmsburg/Altstadt. Nach dem Tod der elfjährigen Chantal hat die Hamburger Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen ausgeweitet. Am Dienstag ließ die Behörde das zuständige Jugendamt im Stadtteil Wilhelmsburg sowie die Räume des freien Trägers Verbund sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) durchsuchen, wie Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers auf dapd-Anfrage bestätigte. Die acht Polizisten und ein Staatsanwalt stellten insgesamt 15 Jugendhilfe- und Pflegeakten sicher. Auch seien die Daten von diversen Rechnern gesichert worden.

Seit heute Morgen gegen neun Uhr waren insgesamt acht Beamte und ein Staatsanwalt mit den Durchsuchungen der zwei Objekte beschäftigt gewesen. "Im Jugendamt wurden 14 Akten vollständig kopiert und mitgenommen", sagte Möllers. Die Unterlagen beziehen sich auf die Pflegschaft, auf Chantal und auf das andere Pflegekind des drogensüchtigen Paars, das eigene Enkelkind. "Das Jugendamt hat sich sehr kooperativ verhalten", sagte der Oberstaatsanwalt. "Gestern hatte sich die Staatsanwaltschaft dazu entschlossen, förmliche Schritte einzuleiten und richterliche Beschlüsse einzuholen. "Die Auswertung der Akten wird nun mehrere Wochen dauern."

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Es dauerte fast 90 Minuten, bis Bezirksamtsleiter Markus Schreiber (SPD) bei der Sondersitzung es Jugendhilfeausschusses zu Wort kam. Zuvor war es um die Frage gegangen, wie viele persönliche Daten im Fall der an einer Methadon-Vergiftung gestorbenen Chantal im Ausschuss vorgetragen werden dürfen. Zwar sprach Schreiber erstmals die Möglichkeit eines Rücktritts an: "Ich habe keine Pattex-Mentalität." Doch allen Beteiligten war klar, dass er dafür keinen Anlass sah. Eng wird es wohl für die Jugendamtsleiterin Pia Wolters, die zwei Plätze neben Schreiber saß.

"Regelwidrige Sachbearbeitung wird geahndet", sagte Schreiber mit versteinertem Gesichtsausdruck. Und: "Es gibt begründete Hinweise, dass es sie gab." Nach Abendblatt-Informationen ist es nun zum endgültigen Zerwürfnis zwischen Schreiber und Wolters gekommen. Demnach soll er erst gestern die bereits dreimal angeforderten Akten mit den Führungszeugnissen der Pflegefamilie erhalten haben - zwei Wochen nach dem Tod des Kindes. Schreiber sagte, dass die Haltung einiger Jugendamtsmitarbeiter in Bezug auf die Wohnverhältnisse korrigiert werden müsse. "Vier Kinder, zwei Erwachsene und nur zwei Betten, das geht nicht." Mittlerweile hat die Staatsanwaltschaft ein Vorermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter des Jugendamtes und des Verbunds sozialtherapeutischer Einrichtungen (VSE) eingeleitet. Rechtliche Schritte würden geprüft, konkrete Beschuldigte gibt es laut Oberstaatsanwalt Wilhelm Möllers noch nicht. Der Vorwurf könne auf Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht lauten. Zeitgleich ist ein Schreiben an das Bezirksamt in die Öffentlichkeit gelangt, das den freien Träger VSE stark belastet. In dem Brief einer Beraterin des VSE, der der "Bild" vorliegt, werden Chantals Pflegeeltern als "sehr verantwortungsbewusst und reflektiert" dargestellt, "die alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihre Pflegekinder zu fördern und zu unterstützen".

+++ Hamburger Pflegeeltern müssen zum Drogentest +++

+++CDU: Schreiber muss aus Untersuchungen aussteigen+++

+++ Chantal hatte nicht mal ein eigenes Bett +++

Der Brief, der im September 2008 verschickt worden sein soll, also wenige Monate nachdem Chantal bei ihren neuen Pflegeeltern eingezogen war, heizt den Streit zwischen Bezirk und VSE darüber an, wer für die Einschätzung der Familie letztendlich zuständig war. Beide Einrichtungen schieben sich gegenseitig die Schuld zu. Der Brief belastet den VSE auch deshalb, weil die Verfasserin am Ende resümiert, sie halte das Ehepaar dazu "in der Lage, Chantal als Pflegekind zu betreuen".

Angesichts der jetzt bekannt gewordenen Lebensumstände Chantals wirken die Darstellungen in dem Brief wie blanker Hohn: Laut der VSE-Beraterin lebte die Familie "in Wilhelmsburg in einer kindgerechten 4-Zimmer-Wohnung". Eine kindgerechte Wohnung fanden die Ermittler allerdings nicht vor: Chantal hatte nicht mal ein eigenes Bett, sie musste es sich mit einem der Geschwister teilen. Es gab keine Spielecke, keine Schränke. Saubere und schmutzige Wäsche lag auf dem Boden, zusammen mit abgelaufenen Medikamenten - die Wohnung machte einen ungepflegten Eindruck.

Weiter heißt es in dem Schreiben von 2008, die Familie habe einen stabilen, verlässlichen Freundeskreis. Eine eigenwillige Einschätzung vor dem Hintergrund, dass zu ihren Bekannten auch Chantals leibliche Eltern gehörten - der Vater drogenabhängig und die Mutter Alkoholikerin - und die Pflegeeltern in der Drogenszene verkehrten.

Christoph de Vries (CDU) fordert, einen Sonderermittler einzusetzen, um die Umstände aufzuklären. Zugleich solle die Sozialbehörde die Zuständigkeit des Jugendamts Mitte an sich ziehen: "Schreiber ist Teil des Problems und nicht mehr unbefangen."

Für Freitag hat eine Wilhelmsburgerin einen Schweigemarsch für die "Sternenkinder Lara-Mia und Chantal" organisiert. Gedacht werden soll der toten Chantal und der kleinen Lara-Mia, die 2009 stark unterernährt mit neun Monaten starb (18 Uhr, Stübenplatz).