Robert Sedlatzek-Müller kämpfte in Afghanistan. Was der Elitesoldat aus Stade dort sah, machte ihn krank. Er fühlt sich von der Bundeswehr im Stich gelassen. Eine Gesetzesänderung könnte ihm helfen
Nachts fühlt er sich ein wenig sicherer, in der Dunkelheit, in den Schatten von Hauswänden und Mauern. Darin kann er sich leichter verbergen. Vom Feind nicht aufgeklärt zu werden, ist überlebenswichtig im Krieg, sagt Robert Sedlatzek-Müller.
Er lebt im Krieg, mitten in Deutschland. Er hat ihn mit nach Hause gebracht.
Zu Besuch in Stade. Kopfsteinpflaster, Friesenhäuser, die Menschen sagen Moin. Eine kurze Fahrt durch grüne Felder, links abgebogen in eine ruhige Wohnstraße. Jägerzäune trennen Grundstücke, vor den Häusern parken Kombis, Schnullerbaby-Aufkleber verraten, wer an Bord ist. Taliban fürchtet hier niemand. Nur einer.
Robert Sedlatzek-Müller, 32 Jahre alt, sitzt auf einem weißen Sofa unter einer Dachschräge. Mit seiner Frau Jana, einer Physiotherapeutin, lebt er in einer Dreizimmerwohnung mit Laminatböden und hellen Türen. Auf den Couchtisch vor sich hat er einen Becher Kaffee gestellt, er trinkt ihn schwarz. Daneben liegt ein roter Ordner, "Zeugnisse" steht darauf. Es ist früher Nachmittag. Seit gestern habe er nichts gegessen, sagt Robert Sedlatzek-Müller. An manchen Tagen quäle ihn permanenter Brechreiz. Sein Bart lässt sein hohlwangiges Gesicht kaum voller erscheinen, unter seinen hellen Augen liegen dunkle Schatten. Robert Sedlatzek-Müller leidet unter PTBS, Posttraumatischer Belastungsstörung. Folter durch Erinnerung. Im Ersten Weltkrieg nannten sie die vom Grauen Gezeichneten Kriegszitterer. PTBS wurde erstmals von den Amerikanern nach dem Vietnamkrieg diagnostiziert, seit den 90er-Jahren ist sie als Krankheit anerkannt.
"Im Einsatz habe ich den Alltag vermisst, die Sicherheit in Deutschland", sagt Robert Sedlatzek-Müller. Dieses Gefühl habe ihm der Krieg geraubt. "Supermärkte sind die Hölle für mich, zu viele Menschen, zu viele Geräusche." Hinter jedem Regal könnte der Feind lauern, im Anschlag ein Gewehr.
Mit einem schiefen Lächeln schaut er an sich herunter. Er trägt eine tarnfarbene Fleecejacke, eine tarnfarbene Hose, ein tarnfarbenes Käppi. "Ich hab mich noch nicht an das zivile Leben gewöhnt." Am 30. April wurde der Zeitsoldat aus der Bundeswehr entlassen, sein Vertrag war ausgelaufen.
Eine weiße Schrankwand erstreckt sich über eine Zimmerseite. Sie verrät viel über den Soldaten Sedlatzek-Müller und den Menschen Robert. Da sind Bilder von seiner achtjährigen Tochter, Hochzeitsfotos, eine Aufnahme zeigt Hände, die Ringe in die Kamera halten, im Hintergrund der Eiffelturm. In Paris habe er seiner Frau den Antrag gemacht, sagt Robert Sedlatzek-Müller. Damals, vor zwei Jahren, sei er noch nicht so krank gewesen. PTBS schleicht sich ins Leben, das ist typisch.
Daneben, hinter Glas, liegen etwa ein Dutzend Auszeichnungen, darunter eine Urkunde des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck und eine Medaille von Carl-Hubertus von Butler. Als Brigadegeneral kommandierte er 2002 in Afghanistan im Rahmen der Isaf ein Vorauskommando, zu dem auch Robert Sedlatzek-Müller gehörte.
Über den Krieg in seinem Kopf zu sprechen, kostet Robert Sedlatzek-Müller Überwindung. Er wolle niemanden erschrecken, sagt er. Es sind Bilder, Experten sagen Flashbacks, wie diese, die ihn quälen: eine halbverweste Frau auf einer Matratze, erschossen und vergewaltigt. Eine Frau, die in ihren Exkrementen stirbt. Der Bauch eines Kameraden in Afghanistan, aus dem Gedärme quellen. "Wir haben dort keine Mädchenschulen und Brunnen gebaut", sagt Robert Sedlatzek-Müller, macht eine kurze Pause, senkt den Kopf. Als er aufschaut, sind seine Augen schmal, sein Blick eindringlich. "Da ist Krieg, da sterben Menschen." Manchmal braucht er eine Flasche Whisky zum Einschlafen.
Robert Sedlatzek-Müller kommt aus Rostock. Sein Vater arbeitet im Hafen, seine Mutter ist Kassiererin in einem Baumarkt. Nach der Schule machte er eine Ausbildung zum Koch, wurde Küchenchef in einem Restaurant. Seine Hände zeichnen keine Narben von Schnitt- oder Brandwunden, das ist selten bei einem Koch. Sedlatzek-Müller scheint schon immer genau in dem gewesen zu sein, was er tat. Perfektion wird bei der Bundeswehr geschätzt.
Er war 21, als er sich zum Wehrdienst meldete. Er suchte eine neue Perspektive, zur Musterung hatte man ihn nie geladen. "Wir haben Sie vergessen", habe ihm die Frau beim Einwohnermeldeamt gesagt. Diesen Satz sollte er noch einmal hören, später, von höchster Ebene.
Die Bundeswehr weckte den Ehrgeiz des ehemaligen Kochs. Er wurde Fallschirmjäger, Sprengstoffexperte, Hundeführer, einen Aufnahmetest des Kommando-Spezialkräfte (KSK) bestand er mit "sehr gut". Sein erster Auslandseinsatz führte ihn 1999 mit den KFOR-Truppen in den Kosovo, dreimal war er insgesamt in Afghanistan. "Ich habe den Arsch zusammengekniffen, weil es meine Pflicht war, ich ein guter Soldat sein wollte. Dafür war ich bereit, mein Leben zu riskieren."
Am 6. März 2002 hätte er es fast verloren. In der Nähe von ihrem Lager, Camp Warehouse, wurden russische SA-3-Raketen entdeckt. Ein Team aus dänischen und deutschen Soldaten wurde zum Entschärfen entsandt, einer von ihnen war Robert Sedlatzek-Müller. Bei dem Versuch, den Sprengstoff herauszumeißeln, explodierte eine Rakete.
Robert Sedlatzek-Müller stand nur wenige Meter entfernt. "Etwas Hartes traf mich am Rücken, ich wurde durch die Luft geschleudert." Die Erinnerung beschlägt seine Stimme, er knetet seine Hände. "Ich habe nur noch Schwarz-Weiß gesehen, konnte nichts mehr hören, durch den Explosionsdruck waren meine Trommelfelle gerissen." Neben sich ertastete er einen abgetrennten Arm, daneben lag ein Torso. Als Robert Sedlatzek-Müller in einem Versorgungszentrum wieder zu sich kam, starb neben ihm ein Kamerad. Gedärme quollen aus seinem Bauch. "Er hat immer ,Mutti' gerufen." Robert Sedlatzek-Müller spricht leise, schnieft, fasst sich an die Nase. "Ich werde auch Gerüche nicht mehr los." Bei der Explosion starben drei dänische und zwei deutsche Soldaten, 27 und 29 Jahre alt.
Am nächsten Tag wurden die Verletzen und Toten in einem Sanitäts-Airbus der Bundeswehr ausgeflogen. Noch auf dem Rollfeld in Köln-Warn stieg Rudolf Scharping zu, damals Verteidigungsminister. "Er hat uns schnelle, unbürokratische Hilfe versprochen", sagt Robert Sedlatzek-Müller. "Darauf warte ich seit acht Jahren."
In einer Spezialklinik wurden ihm künstliche Trommelfelle implantiert. Der Pfeifton in den Ohren blieb. Diagnose: Tinnitus. Ein Jahr später kam eine weitere hinzu: PTBS. Noch ein unsichtbares Leiden. "Würde mir doch ein Bein fehlen", sagt Robert Sedlatzek-Müller.
Um den im Afghanistan-Einsatz versehrten Soldaten zu helfen, wurde Ende 2007 das sogenannte Einsatz-Weiterverwendungsgesetz verabschiedet. Geschädigte, die im Einsatz verwundet wurden, erhalten bei einer dauerhaften Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 Prozent einen Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung als Berufssoldat, Beamter auf Lebenszeit oder in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis beim Bund.
Das Gesetz gilt rückwirkend zum 1. Dezember 2002. Am 21. des Monats war während eines Erkundungsfluges über Kabul ein CH-53-Transporthubschrauber abgestürzt, sieben deutsche Soldaten starben. "Man dachte, dies wären die ersten Opfer im Afghanistan-Einsatz gewesen", erklärt Robert Sedlatzek-Müller. Im Nachhinein räumten Politiker ein: "Wir haben Menschen vergessen." Darunter die Opfer der Explosion im März. Dennoch wurde das Gesetz bislang nicht korrigiert. Erst vor Kurzem verkündete Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg einen drastischen Sparkurs bei der Bundeswehr. Der Verteidigungsetat beträgt in diesem Jahr 31,1 Milliarden Euro.
Auch auf Druck der Deutschen Kriegsopferfürsorge (DKOF) versuchen Verteidigungspolitiker inzwischen die Diskussion um die Stichtagsregelung neu anzufachen. Noch kann niemand absehen, wann sie den Bundestag erreicht. Positionspapiere und Stellungnahmen werden zuhauf eingereicht.
"Jeder Tag, den das länger dauert, ist ein Tag zu viel", sagt Jana Sedlatzek. Niemand weiß besser als die 27-Jährige, wie sehr ihr Mann unter der Ungerechtigkeit dieses Gesetzes und den Folgen des Krieges leidet. "Nachts wälzt er sich herum, schreit, ruft nach jemandem, morgens steht er komplett gesprenkelt auf." Robert Sedlatzek-Müller hat Nesselsucht bekommen. Rote, juckende Quaddeln, die sich über den ganzen Körper ziehen, ein Zeichen für andauernden psychischen Stress. "Robert braucht dringend Hilfe." Pause. Sie weint. "Und seine Eltern und ich auch, die Situation überfordert uns. Wir wissen nicht, wie wir ihm helfen können." Die Verantwortung sieht sie bei der Bundeswehr. "Kameradschaft und Zusammenhalt werden dort so hoch gelobt. Wie passt das zusammen?"
Die Bundeswehr bot Robert Sedlatzek-Müller eine stationäre Therapie an. In Berlin, im internen Trauma-Zentrum. Es wurde im Mai eingeweiht, als Reaktion auf die stetig wachsende Zahl seelisch verwundeter Soldaten, die aus dem Afghanistan-Einsatz zurückkehren. Der Veteran lehnte ab. "Ich mache inzwischen in Hamburg eine pädagogische Ausbildung. Wenn ich da aussteige, stehe ich am Ende mit nichts da."
Früher sei er schüchtern gewesen, zurückhaltend, durch die Bundeswehr wurde er selbstbewusst, zielstrebig, reflektiert sich Robert Sedlatzek-Müller. Nach dem ersten Afghanistan-Einsatz rammte er einen Wagen auf der Autobahn, ließ sich "Live free or die" auf die Schultern tätowieren, betäubte sich mit Fallschirmjäger-Tequila. Zitrone in die Augen, Salz in die Nase, Schnaps in den Rachen. Was für die ganz Harten.
Als Robert Sedlatzek-Müller selbst mit den Kameraden nicht mehr zurechtkam, flog er aus dem Hundeführerzug. Heute rastet er aus, wenn das Internet nicht funktioniert, schlägt den Laptop zusammen. Manchmal rennt Idor, seit zwölf Jahren sein Diensthund, zitternd vor seinem Herrchen weg. "Ich verstehe mich selbst nicht mehr", sagt Robert Sedlatzek-Müller. Es scheint, als habe er sich in sich selbst verschraubt. Als hätten sich Krieg, Erinnerung und gefühlte Ungerechtigkeit zu Windungen geformt, aus denen er nicht mehr herauskommt. Und dann ist da noch die Sehnsucht. "Die Kaserne war mein Zuhause, die Kameraden waren meine Familie", sagt Robert Sedlatzek-Müller. Als Zivilist gehört er nicht mehr dazu.
"Ich hoffe, dass sie diesen Stichtag endlich korrigieren", ruft er. Obwohl er weiß, dass er bislang noch nicht davon profitieren würde. Laut einem aktuellen medizinischen Gutachten beträgt seine Wehrdienstbeschädigung 40 Prozent, das Einsatz-Weiterverwendungsgesetz greift aber erst ab 50 Prozent. "In dem Gutachten wurde nicht mal mein Tinnitus berücksichtigt", klagt er. "Meine Krankenakte ist intern verschwunden, das muss man sich mal vorstellen!"
Per E-Mail bestätigt ein Sprecher des Verteidigungsministeriums: "Die Gesundheitsakte von Robert Sedlatzek-Müller ist verschollen. Bei der Vielzahl von Fachärzten und Dienststellen, die mit dem Vorgang befasst waren, ist es zwar äußerst selten aber leider nicht auszuschließen, dass Akten fehlgeleitet und vermisst werden. Gleichwohl sind alle Untersuchungen/Ergebnisse bei den behandelnden Ärzten dokumentiert. Es wird weiter nach der Akte gesucht." Robert Sedlatzek-Müller geht nun zu einem unabhängigen Gutachter.
Derzeit lebt er von 123 Euro Grundrente monatlich. Dazu kommt die Übergangszuwendung der Bundeswehr, drei Jahre wird diese noch gezahlt. "Wie es dann weitergeht, weiß ich nicht. Ich denke oft daran, mit einem großen Knall zu gehen." Um zu verstehen, wie er sich fühlt, müsse man "Straight Shooter" schauen. Darin spielt Heino Ferch einen ehemaligen Fremdenlegionär und ausgebildeten Scharfschützen, der Politiker bedroht. "Dann hätten manche Menschen eine Vorstellung davon, was eine PTBS ist." Robert Sedlatzek-Müllers Blick verstärkt seine Worte.
"Der Krieg ist immer da", sagt er und deutet auf seinen Kopf. Auf der Suche nach Zerstreuung fährt er oft mit dem Auto herum. Ruhe findet er an einem kleinen See in Mecklenburg-Vorpommern, dort hat er eine Hütte mit einem Ölofen. "Da ist es still."
"Wenn ich es mir aussuchen könnte", sagt Robert Sedlatzek-Müller, "wäre ich am liebsten wieder Soldat."