Von erfahrenen Eltern hatten mein Mann und ich vor der Geburt unseres Sohnes immer wieder den Satz gehört: “Schlaft, so viel ihr könnt.“
Hamburg. :: "Was ist das Schönste am ersten Jahr mit Kind?" - "Es geht vorbei." Diesen Witz unter Müttern fand ich immer böse. Bis ich dann selbst Mutter wurde. Und am Ende meines ersten Baby-Jahres in der Silvesternacht auf meiner Wohnzimmercouch saß, im Arm meinen vom Norovirus geplagten, sich im 30-Sekunden-Takt übergebenden Sohn Juri hielt und mich fragte, wer genau sich dieses geradezu explosive Finale für das Jahr 2008 ausgedacht hatte. Mich zu fragen, ob ich jemals wieder sechs Stunden am Stück schlafen würde, hatte ich zu dem Zeitpunkt längst aufgegeben.
Von erfahrenen Eltern hatten mein Mann und ich vor der Geburt immer wieder zwei Sätze gehört. Nummer eins: "Schlaft, so viel ihr könnt. Damit ist dann erst mal Schluss." Nummer zwei: "Niemals aufgeben, es sind alles Phasen." Beides stimmt - nur macht Nummer eins Nummer zwei nicht unbedingt leichter. Nach müde kommt nämlich total müde. Und nach total müde setzt das Hirn aus. Es gab Tage, da konnte ich mich nicht an meine eigene Telefonnummer erinnern. Im Supermarkt kamen mir die Tränen, weil ich vergessen hatte, was ich kaufen wollte, nur noch wusste, dass es wichtig war.
Begonnen hat mein erstes Baby-Jahr am 9. Januar 2008. Zwölf Monate Elternzeit vor mir, Fünf-Stunden-Geburt hinter mir. Verabschiedet wurde ich aus dem Krankenhaus mit dem süßesten Baby der Station und dem aufgeregtesten Vater weltweit.
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Letzteres hielt glücklicherweise nur einige Wochen an. Die aber waren anstrengend. Denn Papa entdeckte plötzlich seine fürsorgliche Seite. In den ersten Tagen prüfte er regelmäßig mit einer Kerze die Zugluft-Verhältnisse in den einzelnen Wohnbereichen und toppte dies durch nächtliche Überraschungsbesuche im Mutter-Kind-Schlafzimmer. Mit Thermometer in der Hand und Panik in der Stimme weckte er die gnädigerweise kurz eingenickte Mama mit den Worten. "Hier ist es zu kalt, nur 16 Grad! Es müssen mindestens 17 sein!" So hatte es ihm die Hebamme gesagt. Unsere Rund-um-die-Uhr-Service-Hotline in den ersten sechs Wochen. Die dann auch mir erklärte, dass Stillen ein Handwerk ist, welches es zu lernen gilt. Nix mit sofort andocken, zurücklehnen, warten, Baby satt. Ich wurde in komplizierte Halte-Techniken eingewiesen, gegen die das Kamasutra ein Witz ist. Nach Papas Kommentar: "Das sieht irgendwie falsch aus", hätte ich fast zur Flasche gegriffen.
Doch wie prophezeit: Die Phase ging vorüber! Im März wurden die Tage wieder länger, die Nächte leider nicht. Aber: Baby und Brust passten mittlerweile zusammen. Ich hatte ein Eppendorfer Kaffee gefunden, in dem "entkoffeiniert" nicht mit "du Arme hast den lustigen Teil deines Lebens hinter dir" assoziiert wurde, und begann, mich um die Kita-Platz-Akquise zu kümmern. Für Anfang des Jahres 2009, was naiv und eigentlich aussichtslos war, wie ich schnell feststellen musste. Denn schlaue Mütter, also gefühlt alle außer mir, bewerben sich bereits um einen Platz, sobald sie auch nur in Erwägung ziehen, die Pille abzusetzen. Da schlaue Mütter sich aber sicherheitshalber auch gleich in mindestens vier Kitas parallel anmelden, haben Mütter wie ich die Chance, gegebenenfalls nachzurücken. Ich konnte rücken! Und zwar in meine Wunsch-Kita.
Im Sommer lernte ich Hamburg dann zu Fuß kennen. Juri konnte in seinem Kinderwagen mittlerweile aufrecht sitzen und lächelte mich - meistens - aus seinem noch zahnlosen Mund an. Ich beschloss: Wer sitzen kann, darf auch am Tisch essen, verbannte endlich Milchpumpe und Stilleinlagen und kochte den ersten Brei. Freundinnen empfahlen für das aufregende erste Ma(h)l Pastinake. Ein mir bis dato völlig unbekanntes Gemüse. Wohl wegen seiner Farblosigkeit, Geschmacklosigkeit und Unansehnlichkeit. Was meinem Sohn, dem Fuchs, auch nicht entging. Pastinake landete überall. Nur nicht im Mund. Von da an gab es Karotte oder Kürbis - und zwar aus dem Glas.
Auch im Urlaub, weshalb ich mir folgende Malesche bis heute nicht erklären kann. Es war Oktober, als wir unsere erste große Reise mit Juri antraten. Es ging nicht, wie einst zu zweit, auf die idyllische Karibik-Insel, sondern in den fünf Flugstunden entfernten Klub-Urlaub. Ich desinfizierte für die letzte Wicklung vor Start die Flughafentoilette, Papa kämpfte am Sperrgepäckschalter. Nicht wie früher mit Golfschlägern und Skiausrüstung, sondern mit dem Kinderwagen. Schnuller sei Dank war es ein problemloser Flug, der Klub schön, das Wetter bestens.
Der leichte Durchfall unseres Sohnes ab Tag fünf konnte die gute Stimmung nicht trüben. "Das ist der erste Zahn", versicherten unsere neuen Freunde im Hotel. "Das sind Salmonellen", versicherte uns der Arzt in Deutschland. Die nächsten zehn Tage verbrachten Juri und ich dann dort, wo zehn Monate zuvor alles begonnen hatte. Auf der Kinderstation im Uniklinikum Eppendorf. Nur diesmal in Quarantäne auf geschätzten vier Quadratmetern. Mein Sohn lehrte mich in diesen Tagen etwas sehr Wichtiges: Demut und Dankbarkeit. Weil er so tapfer war, mit seiner Kanüle im Kopf. Weil er trotz Lärm, Enge und Gitterbett-Verdammnis lachen konnte. Und weil er mich sein bedingungsloses Vertrauen spüren ließ. Ein unbeschreibliches Gefühl.
An dieses Gefühl erinnerte ich mich, als ich in der Nacht zum 1. Januar 2009 auf meinem Sofa saß und mir der böse Witz unter Müttern wieder einfiel. Der wirklich viel Wahres birgt. Aber eben nicht die ganze Geschichte erzählt.