Sie liest nicht nur Brecht, sie lebt auch die in seinen Werken geforderte Courage: Rose Volz-Schmidt, dreifache Mutter und Gründerin der Wellcome GmbH, unterstützt mit ihren bundesweit 130 Teams Eltern und Kinder und wurde für ihr Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Prix Courage ausgezeichnet.
Hamburger Abendblatt:
Was sind die größten Herausforderungen für junge Eltern im ersten Jahr?
Rose Volz-Schmidt:
Die körperliche und die seelische Erschöpfung. Ein kleines Wesen braucht 24 Stunden Aufmerksamkeit. Das Gefühl, plötzlich fremdbestimmt zu sein, nicht mehr über die eigene Zeit bestimmen zu können, ist neu. Junge Eltern müssen zwangsläufig Verzicht lernen: Verzicht auf Ruhe, Freiheit und Zeit. Außerdem hat die Gesundheitsreform zu einem verkürzten Krankenhausaufenthalt geführt. Anfang der 90er-Jahre waren Frauen nach der Entbindung noch einige Tage. Heute werden Frauen nach der Entbindung oft schon nach 48 Stunden entlassen und stehen todmüde und mit dem Gefühl des Alleingelassenseins zu Hause.
Ist ein Baby eine schwere Belastung für eine Beziehung?
Ja, sogar die schwerste. Besonders im ersten Lebensjahr des Kindes nimmt die Trennungsquote unter den Eltern erschreckend zu. Aber auch aufgrund der modernen Berufswelt, die viel Flexibilität fordert, fühlen sich manche Mütter wie Alleinerziehende, weil der Mann zu lange arbeitet oder ständig auf Dienstreise ist. Komischerweise hält sich der Mythos der glücklichen Mutter nach wie vor, das ist unglaublich. Da scheint die Sozialisation durch das Dritte Reich und später die Kleinfamilie der 50er-Jahre noch nachzuwirken.
Ab wann werden viele kleine Probleme zu einer Krise?
Junge Eltern erleben ein Wechselbad der Gefühle. Sie schwanken zwischen Entzücken über das Neugeborene und Erschöpfung durch die ungewohnte Situation. Viele Mütter leiden unter Stimmungsschwankungen, die auch die Partner belasten. In Kombination mit permanentem Schlafmangel kann das zu sehr kritischen Situationen führen, dass etwa eine verzweifelte Mutter ihr Kind plötzlich schüttelt. Eine Wellcome-Ehrenamtliche, die in solchen Momenten das Kind spazieren fährt, wirkt wie eine Erlösung.
Braucht es wirklich ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen?
Ja, ein symbolisches Dorf. Kinder wurden nie ohne Netzwerke großgezogen, jede Zeit hat ihre eigenen. In den 50er- und 60er-Jahren hatte man eine große Familie und Nachbarschaft. Da wurde auch schon mal für die Kinder der ganzen Straße gekocht. Heute müssen wir uns neue Netzwerke suchen. Denn allein schafft man es nicht.
Wann war es schwieriger, ein Kind großzuziehen. Vor 30 Jahren oder heute?
Ich glaube heute. Früher ging es den Menschen zwar materiell schlechter, aber das fiel nicht weiter auf, weil alle wenig hatten. Heute beginnt schon in der Kita: Wer hat was an, wer bekommt welches Spielzeug? Die Ansprüche und Begehrlichkeiten sind heute viel größer als früher, gleichzeitig fehlt das soziale Netz.
Wie geht es Hamburger Eltern im Vergleich zu Eltern anderer Bundesländer?
Gut! In Hamburg ist die Zahl der Krippenplätze relativ hoch. Im Vergleich zu München sind die Betreuungsmöglichkeiten wesentlich besser, aber sie sind noch nicht flexibel genug.
Beschreiben Sie uns bitte Ihre Vision.
Mein Wunsch ist, dass alle Hamburger die Kinder als wichtigen Teil der Gesellschaft betrachten und nicht als Privatsache der Eltern. Dass auch Kinderlose helfen, einen Kinderwagen aus der U-Bahn zu wuchten.Man muss Kinder nicht auf einen Thron setzen, aber ihnen eine Umwelt schaffen, die ihnen gerecht wird.
Weitere Informationen: www.wellcome-online.de