Ein Tauchunfall im Oktober 2008 veränderte das Leben von HNO-Chefarzt Thomas Grundmann. Er hat sein Schicksal gemeistert.
Hamburg. Sein altes Leben endete in einer Röhre aus Stahl. 2,50 Meter Durchmesser, fünf Meter lang. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt war eine dicke runde Glasscheibe - wie ein Bullauge in einem U-Boot. Er lag in der Druckkammer des Militärkrankenhauses im südfranzösischen Toulon und ließ sein altes Leben Revue passieren. Kindheit, Schule, Studium, seine Karriere zum Chefarzt und Professor, die Kinder, die gescheiterte Ehe. Stundenlang lag er so da. Allmählich wurde ihm klar, dass sein Leben nie wieder so werden würde wie bisher.
Er war von der Brust an abwärts gelähmt. Querschnittsgelähmt. Schuld war ein Tauchunfall, ein Missverständnis mit dem Tauchlehrer, eine Verkettung unglücklicher Umstände. Vielleicht würde er nie wieder gehen, nie wieder operieren können. Entsetzen ergriff ihn. Wie würde sein zukünftiges Leben aussehen?
Außer seinem Beruf hatte für den HNO-Mediziner Thomas Grundmann - schlank, blond, jungenhaft - Sport eine große Rolle gespielt. Er machte Judo, fuhr Snowboard und Ski, segelte, war begeisterter Windsurfer und hatte gerade zum 50. Geburtstag von Freunden den Gutschein für einen Kite-Kurs geschenkt bekommen. Nach Nizza war er geflogen, um dort einen Freund zu besuchen und mal wieder tauchen zu gehen. Eine Woche wollte er dort bleiben, seine älteste Tochter Svenja hatte er mitgenommen. Sie sollte noch einmal ausspannen, bevor der Abi-Stress losging.
Statt heiterer Tage an der herbstlich sonnigen Cote Azur verbrachte er Wochen im Krankenhaus. "Aus dem Sportler war ein Gelähmter geworden, aus dem Chefarzt ein Patient", sagt Grundmann. "Das war schwer zu akzeptieren." Endlose Untersuchungen, immer wieder lange Aufenthalte in der Druckkammer. Dazwischen Stunden, in denen er nur bewegungslos im Bett liegen konnte und warten musste, bis eine Krankenschwester kam und die Dinge erledigte, die er nicht selber machen konnte. Ein kleiner Trost war, dass er erst von der Brust abwärts gelähmt war, Arme und Hände jedoch noch bewegen konnte. Ein Lichtblick war auch der Besuch von Freunden aus Hamburg. Sie wollten ihm das Gefühl geben, dass das Leben weitergeht. Brachten Austern mit ins Krankenzimmer und eine Flasche Rosé. Hievten ihn in einen Rollstuhl und schoben ihn zum Bouillabaisse-Essen in ein Restaurant. Besuchten mit ihm die Cathédrale Sainte Marie de la Seds, um eine Kerze für ihn anzuzünden. "Genau in dem Moment, als ich in meinem Rollstuhl klein und verzagt vor dem Altar stand, setzte wunderschöne Orgelmusik ein. Das war ergreifend und absolut magisch", erinnert sich Grundmann.
Nie wird er die Angst und die Hilflosigkeit vergessen, die ihn auf diesem Ausflug begleitete. "Ich hatte Panik, dass der Rollstuhl umkippt, oder dass mich meine Freunde versehentlich loslassen, und ich die Straße runterrolle."
Drei Wochen nach dem Tauchunfall wurde er mit einem Learjet nach Hamburg gebracht. Für die nächsten drei Monate sollte die Querschnittsgelähmtenstation des Krankenhauses Boberg sein Zuhause werden. Rehamaßnahmen bestimmten seinen Tagesablauf. Rüttelbrett, Schwimmübungen, Massagen, therapeutisches Reiten. Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln ins Einkaufszentrum Billstedt, um dort zu lernen, wie man mit dem Rollstuhl Rolltreppe fährt. Und immer wieder kleine, mühsame Schritte zwischen den beiden Holmen eines Barrens. Langsame Schritte zurück in ein Leben, dass er ohne fremde Hilfe bewältigen musste.
Große Unterstützung bekam Grundmann von seinem Arbeitgeber Asklepios und den Chefs der Klinik Altona. Sie stellten ihm ein Zimmer im "Storchennest" zur Verfügung. Der Bungalow gehört zur Frauenklinik, dort können für ein paar Tage Männer unterkommen, deren Frauen in der Klinik sind. "Dort wohnen zu dürfen, war für mich ein großer Vorteil", sagt Grundmann. "Alles war ebenerdig und ich musste nur ein paar Meter zur HNO-Klinik zurücklegen." Nach und nach nahm er seine Arbeit als Chefarzt wieder auf. Geht es um mikrochirurgische Eingriffe an Mittelohr und Schädelbasis oder um Rekonstruktionen zerstörter Gesichtsbereiche, ist er eine absolute Koryphäe. Daran hat sich nichts geändert.
Der Tauchunfall habe auf seine Arbeit sogar eine positive Auswirkung gehabt, sagt Grundmann: Er nehme die Patienten heute auf andere Weise wahr, und sie ihn auch. "Ich fühle mich jetzt mehr wie ein Arzt als wie ein Mediziner", sagt der Chefarzt. "Früher war ich eine Art Halbgott in Weiß, heute begegne ich den Patienten in doppeltem Sinne auf Augenhöhe. Dadurch verlieren sie die Ehrfurcht." Und das sei sehr gut so.
Auch wenn er kürzere Strecken bereits an Krücken läuft, macht er Visiten und Untersuchungen nach wie vor im Rollstuhl. Bei Operationen sitzt er in einem hohen Spezialstuhl. Seine Mitarbeiter helfen ihm beim Aufsteigen, beim Anlegen des OP-Kittels und dem abschließenden Desinfizieren der Hände. Die Operationen dauern teilweise sehr lange. Neulich, als er einer jungen Frau ein komplett neues, von ihm aus Rippenknorpel geschnitztes Ohr angepasst hat, waren es fünf Stunden absolute Bewegungslosigkeit. "Das ist schon anstrengend, wenn man zwei gesunde Beine hat", sagt Grundmann. "Für gelähmte Beine ist es noch schlimmer. Sie reagieren darauf mit Taubheitsgefühl, Kribbeln und Krämpfen."
Mittlerweile ist Thomas Grundmann vom "Storchennest" in eine Belle-Etage-Altbauwohnung in Rotherbaum gezogen und kommt dort gut klar. Ein Jahr ist der Tauchunfall jetzt her. Ein Anlass für den Professor, demnächst noch einmal zurückzukehren nach Südfrankreich. Um in der Cathédrale Sainte Marie eine Kerze anzuzünden. Aus Dankbarkeit, dass er sein Schicksal bis jetzt so gut gemeistert hat. Und mit dem Wunsch, dass es ihm noch viele Fortschritte beschert.