Prozeß: Auftakt im Verfahren gegen die Eltern der kleinen Jessica - Die siebenjährige war qualvoll in einem abgedunkelten Verlies in Jenfeld verhungert. Fünf Jahre wurde das Mädchen gequält - Staatsanwaltschaft spricht von Mord durch Unterlassen.

Da huscht sie in den Gerichtssaal, eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Kopf gesenkt. Ihren Lebensgefährten Burkhard M. sieht Marlies S. nicht an. Denn dazu müßte sie den Kopf wenden, Dann würden die Zuschauer hinten im Raum etwas von ihrem Gesicht sehen. Unerkannt, unsichtbar zu bleiben, das scheint für die 36jährige, die ihre sieben Jahre alte Tochter Jessica jahrelang in Dunkelhaft hielt, die sie quälte und verhungern ließ, erst mal das Wichtigste zu sein an diesem ersten Verhandlungstag vor dem Schwurgericht. Ist es Scheu, die Marlies S. leitet, die Verlegenheit, sich den Blicken der Prozeßbeobachter stellen zu müssen? Oder ist es vielleicht auch Scham? Schuldgefühle, daß ihre Tochter nach jahrelangem qualvollen Leiden starb, zuletzt nur 9,6 Kilo wog? Ein Kind, das vor Hunger und Verzweiflung seine eigenen Haare und Teppichreste aß.

Es geht vor Gericht um ein furchtbares Verbrechen, um die juristische Aufarbeitung des jahrelangen Martyriums eines Mädchens. Von Grausamkeit spricht die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage gegen die 36 Jahre alte Marlies S. und deren 49 Jahre alten Lebensgefährten Burkhard M. Mord durch Unterlassen und Mißhandlung von Schutzbefohlenen wirft die Anklage den Eltern der Siebenjährigen vor. Die berufslose Frau und der arbeitslose Maler sollen das Mädchen fast fünf Jahre lang gequält haben. Ihr Zimmer war ein Verlies mit verdunkelten Scheiben, mit abgedrehter Heizung, ohne Toilette.

Jessica soll so sehr vernachlässigt worden sein, daß sie an Kleinwuchs litt, so der Staatsanwalt, der sich bei der Anklageverlesung mehrfach räuspern muß. Die Eltern sollen beschlossen haben, ihr Kind sterben zu lassen. Dazu hätten sie ein Stromkabel im Zimmer des Mädchens installiert. "Sie erwarteten, daß sie den Draht berühren und an einem Stromschlag sterben werde." Als dies nicht geschehen sei, hätten Marlies S. und Burkhard M. ihr Kind verhungern lassen. Das Mädchen, das zuletzt wegen eines Darmverschlusses entsetzliche Schmerzen erlitt, erstickte an erbrochenem Speisebrei.

Bleich sieht die Mutter aus, ein wenig füllig das Gesicht, sie schluchzt. Die Nägel wirken abgekaut, ihre Hände hält sie verschränkt. Ob sie je ihrem Kind damit über den Kopf gestreichelt hat? Der Vater, ein schmächtiger Mann, die grauen schütteren Haare zum Zopf gebunden, blickt wie irritiert ins Leere. Ein Psychiater hat dem 49jährigen eine "wenig durchsetzungsfähige Persönlichkeit" bescheinigt. Burkhard M. werde nicht in der öffentlichen Hauptverhandlung aussagen, sagt seine Verteidigerin Johanna Dreger-Jensen. "Er schafft es schlichtweg nicht." Marlies S. dagegen will aussagen. Sie werde sich "zu ihrer Schuld bekennen", kündigt der Verteidiger der Frau, Manfred Getzmann, an. "Sie erwartet keine Rücksicht und auch kein Verständnis für etwas, für das kein Verständnis verlangt werden kann."

Seit dem Tod ihres Kindes am 1. März sitzen Marlies S. und Burkhard M. in Untersuchungshaft. Dort habe sie "ordentlich abgenommen", freute sich die 36jährige in einem Brief an ihre frühere beste Freundin. Zudem beklagt sie sich in dem Schreiben, daß sie zu selten duschen könne. Bis zu ihrer Festnahme verbrachte sie mit ihrem Lebensgefährten die meiste Zeit in einer Kneipe, abends kümmerten sich die beiden um ihre wohlgenährte Katze - während ihre Tochter in ihrem Verlies mit dem Tode rang.

In dem auf zunächst zehn Verhandlungstage angesetzten Prozeß wird es am Rande auch um das Behördenversagen gehen. Das Mädchen war mitten in Hamburg verhungert, ohne daß jemand etwas bemerkt hatte, für die Behörden war ihr Fall nur ein Mahnverfahren der Landeshauptkasse. Alles, was das Gericht tun könne, so Verteidiger Getzmann, sei Prävention. "Für alle Kinder, die nicht auf der Sonnenseite stehen, hoffe ich, daß hier etwas gelernt wird."