An fast jedem Arbeitstag laufe ich an der kleinen Messingplatte vorbei, manchmal halte ich inne, schaue zu Boden - und dann scheint die Zeit einen...
An fast jedem Arbeitstag laufe ich an der kleinen Messingplatte vorbei, manchmal halte ich inne, schaue zu Boden - und dann scheint die Zeit einen Moment lang stillzustehen: "WILHELM PRULL - JG. 1910. GEDEMÜTIGT/ ENTRECHTET/ WÄHREND VERHÖR/ IM STADTHAUS/ SPRUNG AUS DEM FENSTER/ TOT 8.3.1943". Die zehn mal zehn Zentimeter große Platte, die der Kölner Künstler Gunter Demnig gestaltet hat, liegt vor dem Eingang des Gebäudes Stadthausbrücke 8, wo in der NS-Zeit die Kriminalpolizei und die Gestapo ihre Diensträume hatten. Der Verkäufer Wilhelm Prull war am 6. März 1943 verhaftet und zwei Tage später ins Stadthaus zum Verhör gebracht worden. Prull war kein Widerstandskämpfer. Was ihm die Nazis vorwarfen, war kein Verbrechen, noch nicht einmal ein Aufbegehren. Bezichtigt wurde er eines Vergehens nach § 175: Prull war homosexuell. Ich wage mir nicht vorzustellen, was ihm die Gestapo-Männer an diesem 8. März 1943 angetan haben. Seine Verzweiflung war schließlich so groß, dass er keinen anderen Ausweg mehr sah als den Sprung aus dem Fenster. Man brachte ihn ins Hafenkrankenhaus, wo er noch am selben Tag starb.
Auf Hamburgs Straßen erinnern mehr als 2500 dieser Stolpersteine an NS-Opfer. Jeder Einzelne erzählt von einem Menschen, der in dieser Stadt gelebt hat, der hier Familie, Freunde, Nachbarn hatte und dem eines Tages alles genommen wurde.
Jeder Stein nennt einen Namen und macht so das Schicksal eines Menschen vorstellbar. Es sind Juden, politisch Verfolgte, Homosexuelle und andere Opfer. Die Nazis wollten ihre Namen auslöschen. Wenn wir sie lesen, kehren sie zu uns zurück - nicht nur an diesem 27. Januar 2009, an dem sich die Befreiung von Auschwitz zum 64. Mal jährt.