Einmal kurz die Freundin umarmen: Ahmad-Sobair Obeidi genießt diesen innigen Moment ganz offensichtlich, als er nach einem langen Verhandlungstag im Prozess um den gewaltsamen Tod seiner Schwester Morsal vom Vorsitzenden Richter die Erlaubnis für einen Augenblick der Zärtlichkeit bekommt.

Ganz fest drückt der 24-Jährige seine Freundin, scheint sie nicht mehr loslassen zu wollen und dabei für Sekunden alles um ihn herum zu vergessen. Dabei steht ein Vollzugsbediensteter nur eine Armlänge entfernt, der ihn gleich zurück in seine Zelle führen soll. Und von einer psychiatrischen Sachverständigen hat Obeidi gerade wenig Schmeichelhaftes über sich zu hören bekommen: Von seiner "Begabung im minderen Bereich" ist die Rede, von "Selbstwertproblematik", von "narzistischer Krise und einer Persönlichkeitsstörung". "Früher hätte man solche Leute Psychopathen genannt", sagte die Gutachterin. Doch genau diese Dinge sind es, die den wegen Mordes angeklagten Mann möglicherweise vor einer lebenslangen Freiheitsstrafe bewahren werden. Denn die Sachverständige kommt zu dem Schluss, dass der 24-Jährige die Tat im Affekt beging, es sei "keine gezielte Tötung" gewesen. Damit wäre er nicht voll schuldfähig, könnte mit einer milderen Strafe rechnen.

23 Mal hatte Obeidi laut Anklage bei der Tat vom 15. Mai vergangenen Jahres auf seine Schwester Morsal eingestochen, weil er mit ihrem modernen Lebenswandel nicht einverstanden gewesen ist. Nach Darstellung von Gutachterin Dr. Marianne Röhl ist der gebürtige Afghane ein Mann, der schon in der Schule verhaltensauffällig gewesen ist, der früh anfing, Straftaten zu begehen, der von seinem Vater viel geschlagen wurde, dann zum Jugendamt flüchtete und schließlich "keine inneren Grenzen mehr hatte". "Saufen, kiffen, Koks nehmen, Mädchen flachlegen, Bordelle besuchen" habe für ihn im Zentrum gestanden.

Obeidi sei ein "explosiver Charakter" und habe eine "große Selbstwertproblematik", aus der sich später eine narzistische Persönlichkeitsstörung entwickelte. Verlusterlebnisse sowie Gewalt durch den Vater hätten ihn aggressiv gemacht, Alkohol und Drogen habe er konsumiert, um "Unangenehmes zu verdecken". Zudem komme er aus einer Kultur, in der Männer die Aufsicht über Frauen übernehmen, es habe "sozialer Druck" auf ihm gelastet, als er von Bekannten gehört habe, dass Morsal angeblich als Prostituierte arbeitet. Der Angeklagte hatte bei der Polizei angegeben, er habe am Tatabend lediglich mit seiner Schwester reden wollen. Doch als sie sagte, ihr Lebenswandel gehe ihn "einen Scheißdreck an", habe er ungeplant zugestochen. Laut Sachverständiger brach in diesem Moment "sein ohnehin gestörtes narzistisches Gefüge zusammen, es entwickelte sich ein Affekt".

Am kommenden Dienstag haben die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit, Nachfragen zum Gutachten zu stellen. Im Anschluss will das Gericht über einen Befangenheitsantrag des Staatsanwalts entscheiden. Dieser hatte moniert, dass Dr. Röhl möglichst viele Gesichtspunkte zugunsten des Angeklagten berücksichtigt, negative aber ausgeblendet habe. Ein anderer Experte war indes zu dem Schluss gekommen, dass der Angeklagte voll schuldfähig ist. Er war als befangen abgelehnt worden.