Tanzende Türme, Scandic-Hotel und Marco-Polo-Tower: Hamburgs Neubauten wirken seltsam verwachsen. Liegt im Schiefen die neue Eleganz?
Als hängende Spitze wird im Fußballjargon ein Spieler bezeichnet, der die Schnittstelle zwischen Angriff und Mittelfeld bildet. Meistens agiert die hängende Spitze losgelöst von taktischen Zwängen, genießt Freiheiten und ist nicht selten spielentscheidend.
Vielleicht ist es Zufall, dass auch das Dach der Elbphilharmonie an hängende Spitzen erinnert. In jedem Fall ist die verwegene Konstruktion der neuen Konzerthaushaube ein prägendes Element neuer Hamburger Architektur: losgelöst von taktischen Zwängen, alle Freiheiten genießend - vielleicht spielentscheidend.
Zudem ist das Dach ein Beispiel für ambitionierte Baukunst, die irgendwie schief steht und nur Statik oder Grundriss unterworfen scheint. Denn ob Elbphilharmonie, Tanzende Türme an der Reeperbahn, Marco-Polo-Tower in der HafenCity oder das neue Scandic-Hotel am Valentinskamp: Eine neue Schräge, befreit von rechten Winkeln und rationalen Fronten, hat begonnen, das Gesicht der Stadt zu prägen.
"Das fällt aber nur auf, weil sich die Masse an Neubauten noch immer an der konventionellen Formsprache und der im positiven Sinn soliden Hamburger Bauart orientiert", sagt Dieter Polkowski, Abteilungsleiter der Stadtplanung in der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. Außerdem müsse man zwischen Funktion und reiner Bildsprache unterscheiden. "Der Marco-Polo-Tower etwa ist der gelungene Versuch, großzügige Freiflächen und Balkone zu schaffen, ohne gewöhnlich zu wirken. Er ist einer klaren Funktion unterworfen." Ebenso verhalte es sich mit der Elbphilharmonie, die der Form des Kaispeichers folgt und im Kern ein "rationales, symmetrisches Gebäude" sei. Natürlich solle die Philharmonie auch ein architektonisches Zeichen setzen, sei aber nicht die Hauptmotivation beim Bau. Bei den Tanzenden Türmen sei dieses zeichenhafte Bauen indes nicht nötig gewesen. Sie sind - wenn man so will - Statussymbol. "Passen aber wieder, weil es St. Pauli ist", sagt Polkowski.
Jene Tanzenden Türme von Stararchitekt Hadi Teherani an der Reeperbahn wirken auf elegante Art krumm und schief. Die 135 Millionen Euro teuren Neubauten, die sich seit Herbst 2009 verwachsen in die Stadtsilhouette schieben und am Ende bis zu 90,5 Meter hochragen werden, erinnern wahlweise an Tango- oder Walzertänzer. Vereint wird in den geknickten Hochhäusern Wohnen, Büro und Unterhaltung. Während im 23. und 24. Stock Restaurant und Dachterrasse geplant sind, zieht in 16 Meter Tiefe der neue Mojo-Club ein. Vollendet werden sollen der 22 Stockwerke fassende Nord- und der 24 Etagen hohe Südturm im Sommer 2012. "Die Türme werden genauso locker und schräg wie St. Pauli auch", sagt Teherani. Ein Effekt, der dem Standort geschuldet sei und mit 782 schrägen Säulen sowie einer Neigung von bis zu 7,4 Grad erreicht wird.
Aber woher kommt die neue Lust am Schrägen? Stadtplaner Polkowski sagt, es gebe keine Renaissance des Schiefen. Viele Bauten ergäben sich aus dem Grundriss. "Das Gruner+Jahr-Verlagsgebäude etwa oder auch das Chilehaus, schon in den 20er-Jahren gebaut, nehmen zwar den maritimen Charakter Hamburgs auf, erscheinen aber deswegen asymmetrisch, weil die Grundstücke diese Form vorgaben."
Jüngstes Beispiel für diese Formsprache ist das Scandic-Hotel am Valentinskamp, dessen Grundriss einem Triangel- oder auch einem Schneckengehäuse nachempfunden ist. Das vom Architekturbüro MRLV entworfene Haus wird bis zur Eröffnung im Jahr 2012 "dynamisch" von fünf auf zehn Geschosse ansteigen und sucht laut Investoren den Dialog zwischen benachbartem Gängeviertel und dem Emporio-Hochhaus, dem ehemaligen Unilever-Gebäude. Das neue Schräge zeuge aber nicht davon, dass Hamburg ein architektonisches Zeichen setzen wolle, wie etwa die Stadt Köln mit den Torhäusern, sagt Stadtplaner Polkowski. Alle Beispiele würden sich gut ins Hamburger Stadtbild einfügen.
Eine Ansicht, die Architekturprofessor Jörn Düwel von der HafenCity-Universität nicht teilt. "Ich halte die neuen schrägen Bauten noch nicht für einen Stil, sondern eine flüchtige Modeerscheinung. Der damit anvisierte Bilbao-Effekt nutzt sich relativ schnell ab." Dem spanischen Städtchen Bilbao beschert das Guggenheim-Museum des US-amerikanischen Architekten Frank O. Gehry seit 1997 weltweite Aufmerksamkeit. In Hamburg seien City Nord und City Süd vormals gepriesene Architekturgebiete gewesen, die heute als "Sündenfall" gelten.
"Das Bild einer Stadt ist immer auch den Vorlieben des Oberbaudirektors geschuldet", sagt Düwel. Dabei sei die Elbphilharmonie als Alleinstellungsmerkmal "richtig gut platziert". Die anderen Bauten würden aber das Umfeld mehr überformen und überlagern. "Wenn man Tanzende Türme narrativ mit einem Lebensgefühl aufladen muss, halte ich das für eine wenig gute Potenzierung." Brüche mit der umliegenden Architektur hätten gerade Konjunktur, Regeln würden missachtet. "Das ist der beabsichtigte Missklang der Zeit", sagt Düwel. In 20 Jahren zeige sich, ob es auch zum Stil tauge.