Hamburg. Er lebt seinen Traumberuf: Mohamed Said behandelt und versorgt seit 26 Jahren kleine Patienten in Hamburg und Syrien.

An den Wänden in dem Besprechungszimmer hängen Bilder voller Kinder. Lachende Mädchen und fröhliche Jungen, sichtbar gesund und munter. Schon der verwinkelte Flur in der Arztpraxis in Blankenese ist voll mit Kinderzeichnungen. Auf ihnen stehen oft einfache Worte des Dankes, schief und krumm hingekritzelt in farbigen Buchstaben. „Vielen Dank für all ihre Hilfe“, ist da zu lesen.

Aus dem gegenüberliegenden Zimmer dringen jämmerliche Schreie, die nach kurzer Zeit in ein langes Weinen übergehen. Mohamed Said steckt kurz den Kopf durch die Tür. „Ich muss noch schnell ein kleines Kind behandeln. Die Eltern sind extra aus Rostock zu uns gekommen. Einen Moment noch, bitte.“

Eine halbe Stunde später kommt der freundliche Arzt, ein etwas untersetzter Mann mit lustiger Zahnlücke und großer Brille, zurück ins Zimmer. Um den Hals baumelt sein Stethoskop. „Jetzt ist es besser“, sagt er. Aber seine Augen wandern unruhig hin und her. Er muss erneut zu einem kleinen Patienten. Mohamed Said bittet nochmals um Aufschub. „Aber dann haben wir wirklich Ruhe und Zeit zum Erzählen“, sagt er.

Nach weiteren 20 Minuten, als er sich in seinem Stuhl gegenüber niederlässt und erwartungsvoll schaut, hat man diesen buchstäblich unermüdlichen Menschen im Grunde schon verstanden. Nichts ist ihm wichtiger als die Kinder, die seine Hilfe brauchen.

Was ist ein guter Arzt?

Wie sehr berührt den 67-jährigen Hamburger, der seine syrische Heimat mit 17 Jahren verlassen hat, das Weinen und Schluchzen der kleinen Menschen? „Natürlich macht uns das Weinen manchmal auch noch nervös“, sagt Mohamed Said. „Aber wir müssen tapfer sein, alles andere wäre fatal.“

Was ist ein guter Arzt? Mohamed Said überlegt eine Weile. „Sie müssen erst mal ihr Fach beherrschen.“ Aber genau so wichtig sei die persönliche Betreuung der Kinder – und der Angehörigen. Und das Schwierigste an seinem Beruf? „Die Eltern.“ Mohamed Said lacht. Er spricht von den „Google-Doktoris“ mit ihrem Halbwissen, das sich einzig aus dem Internet speist. „Aber ich habe inzwischen ein Alter erreicht, in dem ich Autorität teilen kann.“ Will heißen: Er hört sich alles an, aber wenn es ihm zu bunt wird, sagt er den Eltern auch: „Lasst eure Computer mal aus.“

Man müsse als Arzt eben auch ein guter Psychologe sein. „Sie müssen mit der Seele der Menschen umgehen können.“ Die Menschen, die zu ihm kommen, seien ja meist in Bedrängnis.

50 bis 70 kleine Patienten kommen täglich in die Praxis, die von acht bis 20 Uhr geöffnet ist. Auch am Sonnabend. „Und wir machen auch Hausbesuche“, sagt Said. Sein Spektrum der Hilfe reicht von Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen über Erkältungen, Wundbehandlungen, Anfallsleiden und Brüchen bis hin zu kleinen chirurgischen Eingriffen. Der Kinderarzt hat zahlreiche fachärztliche Zusatzausbildungen absolviert, seitdem er in Deutschland ist.

Vor 26 Jahren hat Mohamed Said die Blankeneser Praxis des niedergelassenen Kinderarztes, der per Chiffre-Anzeige einen Nachfolger gesucht hatte, übernommen. Der Grund dafür liegt, wenn man so will, mehr als 60 Jahre zurück.

Der kleine Mohamed war damals sechs Jahre alt, seine Eltern lebten im Südwesten Syriens in Suweida, einer 60.000-Einwohner-Stadt, rund 100 Kilometer südlich von der Hauptstadt Damaskus. „Wir waren furchtbar arm“, sagt er. Der Vater verdiente als Sanitätsfahrer kaum genug, um die Frau und die zwölf Kinder zu ernähren. „Wir hatten nie genug zu essen und trugen ständig dieselben Klamotten.“

Erste Stelle am Rostocker Klinikum

Die Großfamilie teilte sich zwei Räume. Mohamed schlief mit seiner kleinen Schwester in einem Bett. Als die Zweijährige eines Nachts Durchfall bekam, konnte ihr niemand helfen. „Für einen Arzt fehlte das Geld“, sagt Mohamed Said. „Meine kleine Schwester ist gestorben, und ich habe mir von dem Tag an gesagt, dass ich später Arzt werde, damit kleine Kinder nicht mehr sterben müssen, wenn sie krank oder zu arm sind, um einen Arzt um Hilfe zu rufen.“

Mohamed Said wurde ein exzellenter Schüler und machte 1967 ein glänzendes Abitur. Nach dem Sechs-Tage-Krieg im selben Jahr zwischen Israel sowie Ägypten, Jordanien und Syrien stellte sich die damalige DDR auf die arabische Seite. Zwei Jahre später erkannte Syrien die DDR diplomatisch an. Im Gegenzug finanzierte Ostberlin Stipendien für Hunderte von jungen Syrern. „Ich konnte die Armut bei uns daheim nicht mehr ertragen“, sagt Said. Und nun bot sich ihm die Chance, im Ausland Medizin zu studieren und Arzt zu werden.

Er kam nach Rostock, studierte Kinderheilkunde und Kinderchirurgie, gründete eine Familie und bekam seine erste Stelle am Rostocker Klinikum. „Irgendwann habe ich erkannt, dass die Idee des Sozialismus pervertiert wird, wenn die Herrschenden sich vom Volk entfernen“, sagt er. Und das Geld, das er verdiente, „nützte meinen Eltern in Syrien auch nichts“.

Mohamed Said nutzte einen Ärztekongress in Mainz und kehrte 1987 nicht in die DDR zurück. Zurück blieben seine Frau und seine drei Kinder. „Das war furchtbar.“ Er fing, ohne Geld und ohne Pass, noch einmal bei null an. Über Anstellungen in Bad Kreuznach und Singen kam er schließlich nach Hamburg.

Irgendwann will er noch einmal zurückkehren

Seit 22 Jahren hilft Mohamed Said den Menschen in seinem Heimatland ganz direkt. Er ist mit früheren Ärztekollegen aus Rostock und Hamburg auf eigene Kosten zweimal im Jahr nach Syrien gefahren und hat dort in den Krankenhäusern die Kinder und arme Menschen behandelt. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 organisiert er Contai- nertransporte, sammelt Geld und Kleidung, Möbel und Medikamente. Und in Hamburg hat er zahlreichen aus Syrien geflüchteten Familien geholfen, eine Unterkunft zu finden.

Er selbst war zuletzt vor vier Jahren in Syrien, das sich mit dem Assad-Regime in einen totalen Überwachungsstaat verwandelt habe, erzählt er. In beinahe jeder Familie, sagt Said, gebe es einen Spitzel der Staatssicherheit. Jeder Schritt werde überwacht. „Man muss die Diktatur erlebt haben, um die Demokratie und die Freiheit überhaupt schätzen zu können.“

Wo ist seine Heimat? „Dort, wo man sich frei fühlt und in Frieden leben kann“, sagt Said, der 1989 die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt. Und was ist mit seinen syrischen Wurzeln? „Man hat mir keine Wurzeln gelassen“, sagt er. In Deutschland ist er inzwischen in dritter Ehe verheiratet, hat sechs Kinder („zwölf bis 40 Jahre alt“) und schon sechs Enkelkinder. Er ist viel in der Welt herumgekommen und sagt, dass ihm kein Land einfällt, in dem die Menschen so frei leben könnten wie in Deutschland. „Solch eine menschliche, soziale und demokratische Gesellschaft gibt es kaum.“ Und das könne man nicht laut und oft genug sagen.

Ob er noch einmal zurückkehren wird in sein Land, in dem der Bürgerkrieg bisher 400.000 Tote, zwölf Millionen Flüchtlinge und unzählige traumatisierte Menschen hinterlassen hat und das nun in Trümmern liegt? „Ganz bestimmt“, sagt er. „Ich bin und bleibe ein Optimist.“

Vielleicht wird er wirklich eines Tages nach Suweida zurückkehren. In das Siedlungszentrum der syrischen Drusen, die über Jahrhunderte mit den Muslimen, den Christen und den Juden im Land friedlich zusammengelebt haben. Mohamed Said aber hat seinen Glauben an eine Religion verloren. „Ich bin Atheist“, sagt er. „Ich respektiere jedoch jede Religion.“

Und woran glaubt er? „Ich habe einmal an die Güte der Menschen geglaubt.“ Nun glaubt der Humanist nur noch an die Unschuld der Kinder. Ihnen schenkt er seine ganze Kraft, seine ganze Zeit und sein ganzes Wissen. „Kinder sind Engel“, sagt er.