Ein Interview mit Shabnam Jalali, Beraterin für interkulturelle Kompetenz. Sie betreute jahrelang minderjährige Flüchtlinge.

Shabnam Jalali, 39, berät seit 2011 mit ihrem Unternehmung Cross Culture Consulting soziale Einrichtungen. Für das JesusCenter in der Schanze kümmerte sie sich drei Jahre lang um minderjährige unbegleitete Flüchtlinge. Heute betreut sie dort das jüngste Projekt im Rahmen der Integrationsarbeit der Einrichtung „Kultur-Patenschaften“.

Hamburger Abendblatt: Frau Jalali, in der aktuellen Flüchtlingsdebatte gelten minderjährige unbegleitete Jungen als schwer integrierbar.

Shabnam Jalali: Das hängt davon ab, wie gut vorbereitet eine Einrichtung auf diese Jugendlichen ist. Auf unsere Schützlinge im JesusCenter trifft diese Einschätzung nicht zu. In den vergangenen drei Jahren wurde nur ein Jugendlicher aus asylrechtlichen Gründen abgeschoben. Alle anderen haben bereits innerhalb kürzester Zeit Schulabschlüsse geschafft beziehungsweise sind dabei. Zwei sind 21 Jahre alt und damit eigenständig. Sie haben die Betreuung verlassen und sogar Lehrstellen gefunden.

Aus der Feuerbergstraße hört man andere Geschichten...

Das hat etwas mit dem Betreuungsschlüssel zu tun. Wenn eine WG für fünf Jugendliche ausgerichtet ist, und es leben 15 dort, dann funktioniert es nicht. Und wenn ein Jugendamtsmitarbeiter 150 Fälle betreuen muss, dann hat er keine Zeit für individuelle Beratung. Diese Jugendlichen sind stark traumatisiert. Um ihnen zu helfen, muss man zwingend in Betreuung investieren, um erfolgreich zu sein. Sie brauchen pädagogisch-therapeutische Hilfe, aber auch Menschen um sich herum, die sich in ihrer Kultur auskennen.

Was heißt das?

Diese Jugendlichen oder jungen Männer brauchen eine starke Hand und klare Strukturen. Sie müssen wissen, dass ihr Handeln auch Konsequenzen hat. Mit Verständnis allein kommt man bei ihnen nur bedingt weiter. Ich war kürzlich in einer Schule. Dort ging es drunter und drüber. Der Lehrer war toll und engagiert. Aber er machte einen großen Fehler: Es stand nicht, sondern er saß vor der Klasse. Im Selbstverständnis eines Afghanen bedeutet dies, er ist auf Augenhöhe mit mir, hat mir nichts zu sagen. Das muss ein Lehrer in Deutschland wissen. Als ich mit der Klasse meine Position im Stehen geklärt habe, war innerhalb von 5 Minuten Ruhe und Ordnung eingekehrt.

Wie werden denn in den Heimatländern der Jugendlichen Autoritätsprobleme gelöst?

Es wird geschlagen. Das ist Teil des Systems. Aber man kann sich auch aus dem Weg gehen, nicht reagieren. Diese Möglichkeiten gibt es in den Flüchtlingsunterkünften nicht. Die Erstversorgungseinrichten sind aus Platzmangel-Gründen gezwungen Menschen, die möglicherweise schon per Herkunft miteinander verfeindet sind im selben Raum unterzubringen. Häufig verstehen sich noch nicht einmal die verschiedenen Volksstämme untereinander.

Wie kommen die Jugendlichen überhaupt nach Hamburg?

Wenn sie per Boot oder über Land in Europa angekommen sind, werden sie häufig in Griechenland oder Italien in Touristenbusse verfrachtet, die beispielsweise bis Wien fahren. Unter den Sitzen in den Bussen sind Hohlräume vorbereitet, in denen die Jugendlichen bei wenig Licht und Sauerstoff bis zu 30 Stunden eingepfercht liegen. Die Fahrgäste merken es nicht.

Aber die Busfahrer sind eingeweiht?

Ja. Auf Rastplätzen fahren sie kurz weg, lassen ihre blinden Passagiere raus, damit sie ihre Notdurft verrichten können. Meist gibt es auch etwas Wasser und ein paar Kekse.

Und wie geht es weiter nach Hamburg?

Oft mit dem Zug und einer gültigen Fahrkarte. Manche der Jugendlichen haben dann eine Adresse, wo sie sich melden können. Viele kommen aber am Hauptbahnhof an und fragen Menschen um Hilfe, die aussehen wie sie selbst. So landen sie dann bei der Ausländerbehörde. Und von dort aus werden sie in die Erstversorgung verteilt.

Warum ist es so schwierig, diesen jungen Menschen die Regeln unseres Zusammenlebens zu erklären.

Es gibt zu wenig gut ausgebildete Migranten für diese Jobs. Mangelnde Sprachkenntnisse auf beiden Seiten sind ein großes Problem. Hinzu kommt: Die Flüchtlinge kommen mit völlig falschen Vorstellungen hierher. Ihnen wurde von den Schleppern gesagt, dass in Deutschland alles bezahlt würde. Sie glauben, dass sie nur kurz in ein Übergangsheim kommen, dann eine eigene Wohnung und Arbeit erhalten. Sie haben ein Schlaraffenland vor Augen.

Sie merken doch aber schnell, dass das nicht stimmt?

Das ist auch wichtig. Sie müssen begreifen, wie es wirklich hier in Deutschland läuft. Wo das Geld herkommt, von dem sie leben. Dass der Staat keine Schatztruhe hat, in die er greift, um daraus alles zu bezahlen, sondern was Steuergelder sind. Und warum es so lange dauert, wenn man auf einem Amt ist. Weil hier nämlich nicht geschmiert wird, wie bei ihnen zu Hause. Und dass Bildung der Schlüssel zu allem ist.

Es gibt Dolmetscher...

Ja, wenn Sie denn korrekt übersetzen. Das ist jedoch nicht immer der Fall. Vor allem beim Erstgespräch wird oft hanebüchener Unsinn übersetzt. Dabei ist es wichtig, dass die Jugendlichen sofort wissen, dass sie hier niemanden gegeneinander ausspielen können. Wer es bis hierher geschafft hat, verfügt über Potenzial und Selbstbewusstsein.

Es ist dennoch schwer vorstellbar, wie diese jungen Menschen ohne Heimat, Eltern und Freunde hier zu Recht kommen sollen?

Ihnen wieder Vertrauen zu geben, das Gefühl, dass sie willkommen vielleicht sogar geliebt werden, ist ein wahnsinniger Kraftakt. Man muss sich nur vorstellen, was sie an Schrecklichem erlebt haben. Hinzu kommt, diese jungen Männer kulturell bedingt nicht gelernt haben, ihre Gefühle zu äußern. Sie kennen noch nicht einmal in ihrer Muttersprache die Begriffe für viele Gefühle. Wut, Glück, Freude oder Stress, das können sie nicht benennen. Daraus wird dann oft Aggression – gegen andere, viel öfter aber gegen sich selbst.

Aber Ehre ist wichtig?

„Ehre“ in seiner Vielschichtigkeit ist eines der höchsten Werte in diesen Kulturen. Wenn dieser Wert verletzt wird oder wenn Traumata in einer Situation hochkommen, setzt an dieser Stelle das Gehirn manchmal aus. Wir hatten einen 14jährigen Jungen, der kam aus einem Gebirge. Die Mutter war drogenabhängig, also hat er die Tiere dort oben versorgt und auch seine Mutter. Irgendwann haben die Verwandten gesagt, jetzt ist Schluss. Wir kümmern uns um deine Mutter und du gehst dahin, wo du Geld verdienen kannst. Hier in Hamburg hieß es dann, so ein armer Kerl, der ist ja viel zu dünn. Du musst kochen lernen. Wieso hat er geantwortet, ich habe zwei Jahre für meine Mutter gekocht und jetzt sagt ihr, ich kann nicht kochen? Übersetzt heißt das, ich war Manns genug meine Familie zu versorgen und jetzt stellt ihr meine Männlichkeit in Frage?

Haben diese jungen Männer wirklich Chancen, Deutsche zu werden und hier zu bleiben?

Aber ja, bei uns lernen Sie, wie sie Deutsche werden können und zugleich tiefverwurzelt Afghanen bleiben dürfen. Sicher, es dauert und sie müssen einen langen Atem haben. Aber wie schon gesagt, um so eine Flucht zu überleben und dann hier anzukommen, das bedarf herausragender Eigenschaften. Und wenn die Betreuung dann wirklich individuell auf die jeweilige Kultur zugeschnitten ist, dann schaffen es diese Jungen auch.

Gibt es schon Beispiele?

Seit Sommer 2014 wohnen in einer 6-Zimmerwohnung des JesusCenters in der Feldstraße ein deutscher Student, ein deutscher Auszubildender, zwei Afghanen die schon länger als drei Jahre und zwei, die seit fast einem Jahr in Deutschland sind, zusammen. Die Afghanen werden betreut. Es funktioniert wirklich gut. Es gibt klare WG Regeln und die schönste ist: Sie müssen einmal in der Woche etwas zusammen machen. Das kann auf-den-Dom-gehen sein oder zusammen Fußballgucken, Kochen (deutsch und afghanisch) und immer wieder feiern.

Sechs junge Männer in einem Haushalt?

Das ist das Schöne! Zwei Herkunftskulturen und sechs einzigartige Persönlichkeiten unter einen Dach . Das ergibt eine ganz normale WG mit viel Spaß und ganz alltäglichen Zickereien darüber, wer abwäscht oder einkauft, im Prinzip eine Vorzeige-WG.