Hamburg. Kaffee war gestern: Der Konzern verkauft mehr Textilien und Haushaltswaren als Röstbohnen. So funktioniert der Warenumschlag im Akkord.
Die Dessertteller mit herzigem Osterhasen-Motiv und Echtgoldrand sind schon jetzt ein Verkaufsschlager. Mit geübten Handgriffen packt Irina Richea die Pappschachteln in die Transportbehälter auf dem Laufband. Eine, zwei, manchmal auch mehr. Im Sekundentakt ploppen die Bestellungen auf ihrem Bildschirm auf. 19,99 Euro für vier Stück aus Qualitätsporzellan, backofengeeignet bis 180 Grad.
Schon wieder ein Karton leer. Die 37-Jährige zerkleinert ihn, wirft die Pappe auf das Müllförderband. Weiter geht’s. Auch die Kuchenform mit Glasboden und rotem Silikonrand für 9,99 Euro läuft richtig gut. Schleppender ist die Nachfrage beim Eier-Shaker für 6,99 Euro, in dem sich bis zu vier Eier zu Rührei oder Omelette mixen lassen.
Die Küchenutensilien sind Teil der neuen Tchibo-Themenwelt „Frohen Osterfrühling“. Anfang nächster Woche ist das Sortiment in den Filialen und Depots des Handelsriesen, online sind die Produkte schon seit Mittwoch verfügbar. Deshalb steht Kommissioniererin Richea seit sechs Uhr an ihrem Arbeitsplatz im zentralen Tchibo-Logistikzentrum und packt Artikel für die Auslieferung und die ganz schnellen Schnäppchenjäger zusammen.
Hochregallager ist eines der größten Europas
Wenn an ihrer Station gerade nichts zu tun ist, geht sie im Laufschritt zur nächsten. Sport-Shirts, BHs. Ab und zu landet auch ein Paket Kaffee in den Bestellkisten. Dass das 1949 in Hamburg gegründete Unternehmen schon lange nicht mehr nur ein Kaffeehändler ist, lässt sich nirgendwo besser sehen als in dem Hochregallager in der Nähe des Neustädter Hafens in Bremen. Es ist eins der größten in Europa. Auf einer Fläche von 200.000 Quadratmetern hat die Bremer Lagerhausgesellschaft (BLG) drei 40-Meter-Türme und mehrere Hallen gebaut, um Woche für Woche den Warenumschlag für Tchibo abzuwickeln.
90 Millionen Artikel aus weltweit 60 Ländern, vom Oster-Bastel-Set über Toaster bis zum Couchtisch werden jedes Jahr angeliefert, umsortiert und wieder abtransportiert. Am Tag sind das umgerechnet 6000 Paletten mit Waren, die per Lastwagen oder Bahn in die europaweit gut 1000 Tchibo-Filialen, 8500 Depots in Super- und Drogeriemärkten verteilt oder an Onlinekunden verschickt werden.
Kleine, weiche, große oder sperrige Waren
Jörg Pipper ist einer, der den Überblick hat. Einer von elf Teamleitern und seit dem Bau des Logistikstandorts dabei, inzwischen 22 Jahre. „Das Geschäftsmodell von Tchibo ist eine logistische Herausforderung“, sagt der 50-Jährige in BLG-Overall und Arbeitsschuhen. Er meint das wechselnde Angebot von Non-Food-Sortimenten. „Keine Woche ist wie die andere“, sagt er.
Das gilt für die Kunden in Läden und Internet und auch bei Lagerung und Transport. Mal sind die Produkte klein und weich, dann wieder groß und sperrig. Ständig müssen Prozesse angepasst werden. Pipper pendelt zwischen den unterschiedlichen Bereichen, legt manchmal ein Dutzend Kilometer am Tag zurück. „Ein Rädchen muss ins andere greifen, sonst gibt es sofort Probleme“, sagt er.
Wenn man in der Halle für den Wareneingang steht, bekommt man ein Gefühl dafür, was der Logistik-Meister meint. Dicht an dicht stehen Paletten, die seit dem Morgen angeliefert wurden auf Förderbändern. Stapelweise Kartons mit Blusenshirts, Kaffeepaketen, Frühstücksbrettchen und und und. Eine Frau, die zwischen den Reihen steht, sieht ganz klein aus. Sie scannt erst die Produktetiketten ein, vergibt dann den Tchibo-Barcode. Ohne den geht von jetzt an nichts mehr. „Damit können wir verfolgen, wo genau sich eine Palette in unserem Lager befindet“, sagt Pipper.
„Chaotische Lagerhaltung“ mit System
Das ist auch nötig, denn schon schwebt eine Art Mini-Schwebegondel herbei, im Fachjargon Elektrohängebahn, und lädt das Gebinde auf. Es rattert und rödelt. Wie von Geisterhand verschwinden sie samt ihrer Fracht in den Tiefen der Lagertürme. Vierzig Meter hohe Transportlifte transportieren die Paletten hoch und stellen sie in den langen Regalen an einem freien Platz ab. Bratpfannen neben Gummistiefeln, Laufschuhe neben Kaffeebohnen. „Chaotische Lagerhaltung“ nennt man das. Aber chaotisch ist hier natürlich gar nichts. Ein Klick im Computersystem, und der Standort kann angesteuert und die Ware wieder abgeholt werden.
Seit 2003 laufen alle Tchibo-Produkte für das stationäre Geschäft über das europäische Zentrallager in Bremen. 2013 erweiterte der Konsumgüterkonzern die Kapazität deutlich, um sein Onlinegeschäft weiter auszubauen. Mit dem Logistikpartner BLG investierten die Hamburger zur Startinvestition von 100 Millionen Euro weitere 50 Millionen Euro. Unter anderem wurden automatisierte Kleinteilelager errichtet, ein Sortiergebäude und Förderbrücken zur Verbindung mit bereits bestehenden Anlagen.
Aktuell arbeiten am Bremer Standort etwa 380 Beschäftigte, dazu kommen je nach Auftragslage etwa 200 Leiharbeiter. Im Weihnachtsgeschäft steigt die Zahl auf bis zu 1000 Mitarbeiter, die dann rund um die Uhr arbeiten. Für die regionale Verteilung betreibt Tchibo im mecklenburgischen Gallin und in Cheb in Tschechien zwei weitere Auslieferungslager.
1972 wurden erstmals Gebrauchsartikel verkauft
Schon die Tchibo-Gründer Max Herz und Carl Tchiling boten den Kunden ihres Kaffee-Versands die Wahl zwischen Verpackungen in Dosen oder Taschentuch- und Geschirrhandtuchbeuteln. 1972 verkaufte der Kaffee-Händler erstmals Gebrauchsartikel ohne Kaffee in den Filialen. Die Renner der ersten Stunde waren Tischsets und Frühstücksbrettchen. Unter dem Motto „Jede Woche eine neue Welt“ entwickelte sich das wöchentliche Angebot weiter.
Kaum ein Haushalt in Deutschland, der keine Küchenutensilien aus der Tchibo-Kollektion im Schrank hat. Statistisch trägt jede zweite Frau einen Tchibo-BH. Besonders gut laufen auch Sportartikel und Kindermoden. Tchibo schickt Scouts in die ganze Welt, die Inspirationen und Lieferanten suchen. Etwa ein Jahr dauert es von der Idee für einen Artikel, bis er im Regal liegt oder im Onlineshop bestellbar ist. Zwischen 3000 und 3500 Produkte spült der Konzern jedes Jahr auf den Markt.
Dabei können die Kunden sich auf regelmäßige Zyklen verlassen. Und jetzt, drei Wochen vor Ostern, liefert der Händler eben alles rund um Hasen, Eier und Kuchenschlachten. Im sogenannten Top-X-Bereich des Zentrallagers stehen die Produkte der aktuellen Themenwelt bereit, die in den Prospekten und im Fernsehen besonders stark beworben werden. Mitarbeiter wie Irina Richea stehen an den insgesamt 133 Kommissionierungsbahnhöfen und arbeiten die Bestellungen ab.
„Abends weiß ich, was ich getan habe“
Die Zeit ist knapp. Auf Förderbändern mit einer Gesamtlänge von 16,5 Kilometern laufen die Behälter durch das Lager: Plastikwannen in Grau für Erstbelieferungen und Blau für Onlinebestellungen, Nachbestellungen werden in Pappkartons verpackt. Vorbei geht es an Kontrollstationen. An einer davon überprüft Petra Pensel stichprobenartig, ob tatsächlich das in den Lieferungen ist, was drin sein soll.
Seit sechs Jahren ist die gebürtige Staderin im Tchibo-Lager beschäftigt und hat sich an den Zwei-Schicht-Betrieb zwischen 6 und 21 Uhr gewöhnt. „Abends“, sagt sie, „weiß ich, was ich getan habe.“
Der Non-Food-Bereich macht heute 60 Prozent des Tchibo-Geschäfts aus. Allerdings schwächelt das Filialgeschäft. Die Zahl der Kunden, die die Läden täglich besuchen, sinkt seit Jahren. Mit 3,31 Milliarden Euro lag der Umsatz des Unternehmens, das zu hundert Prozent zur von der Gründerfamilie Herz kontrollierten Dachgesellschaft Maxingvest gehört, im Geschäftsjahr 2016 leicht unter dem Vorjahreswert von 3,36 Milliarden Euro.
Onlinehändler und Discounter setzen den lange erfolgsverwöhnten Hamburgern in dem preissensiblen Geschäft mit Aktionsware zu. Bereits 2017 hat Tchibo unter dem neuen Geschäftsführer Thomas Linemayr deshalb das Sortiment umgestellt. Die Themenwelten wurden verkleinert, dafür gibt es permanent verfügbare Produktkategorien, wie Kindermode, Damenbasics, Sport und Küchenartikel.
40 bis 80 Pakete pro Stunde pro Mitarbeiter
Das hat auch Auswirkungen auf die Logistik in Bremen. In einer Halle stehen 17 Regalreihen mit mehr als 5000 Produkten aus älteren Kollektionen, Basis- und Dauersortimenten. Thomas George jobbt hier als Picker. So werden Mitarbeiter genannt, die Bestellungen aus dem Warenbestand nach Listen zusammensuchen.
George, der aus Indien kommt und in Bremen ein Studium mit Schwerpunkt Logistik absolviert, ist für eine Regalreihe mit 320 Produkten zuständig. „Für mich ist der Arbeitsplatz ideal, weil ich nicht nur Geld verdienen kann, sondern auch praktisch etwas über Logistik lerne“, sagt der 26-Jährige.
Unterdessen fahren die Transportbehälter weiter Richtung Warenauslieferung. Wenn alles richtig gelaufen ist, ist der Tchibo-Barcode jedes Produktes auf dem langen Weg durch die Anlage mindestens ein halbes Dutzend Mal gescannt worden. Die Onlinebestellungen werden an 90 Stationen versandfertig gemacht.
Keine Zukunft mit Drohnen und Lagerroboter
Noch mal scannen, Karton aussuchen, Produkte und Füllmaterial reinlegen, Lieferpapiere ausdrucken, Adressaufkleber drauf. Klebeband drum – ratsch, ratsch. Zwischen 40 und 80 Pakete schafft ein Mitarbeiter pro Stunde.
Jeden Tag verlassen im Schnitt 60.000 Onlinebestellungen das Lager. Dazu kommen 15.000 Neu- und Nachlieferungen an Filialen oder Depots. Man würde vermuten, dass Tchibo in Zeiten des wachsenden Wettbewerbsdrucks mit Onlinehändlern wie Amazon demnächst auch Drohnen und Lagerroboter einsetzt. „Wir haben uns gegen eine weitere Automatisierung entschieden“, sagt Matthias Pochodaj aus der Leitung der Tchibo-Logistik. Das hat auch mit Osterhasen-Tellern, Sport-BHs und Kaffepaketen zu tun. „Jede Woche eine neue Welt“ – das bekommen Menschen besser hin als Maschinen. Noch.