Hamburg. Serie: Immer mehr Menschen arbeiten weit jenseits des Rentenalters. Helmut Knapwerth steht sechs Tage die Woche in seinem Laden.

Vor dem Mülleimer liegt ein Haufen abgeschnittener Haarspitzen, ordentlich zusammengekehrt. Die meisten sind grau. Helmut Knapwerth, selbst grauhaarig mit einem letzten Blondstich, lehnt den Besen an die Wand, klopft sich ein paar Haarschnipsel von der Hose und begrüßt seinen nächsten Kunden.

Es ist schon der zweite an diesem Tag. Dabei ist es gerade mal kurz nach 10 Uhr und er fängt eigentlich erst um 10 an zu arbeiten. Sein Privileg als Chef. Es ist das Einzige, das er sich inzwischen erlaubt. Seit sechs oder sieben Jahren schon. Weil ihm das früher Aufstehen morgens immer schwerergefallen ist.

„Beginne jeden Tag ...“ steht auf einem Wandtattoo mit Schmetterlingen, das über dem Mülleimer an die Wand geklebt wurde. Den Rest des Satzes kann man nicht lesen, ein Poster hängt dar­über. „Fand es wichtiger, ordentliche Bilder mit Frisuren an den Wänden zu haben als so einen Kram“, sagt Helmut Knapwerth. Das Wandtattoo war schon da, als er seinen Salon eröffnet hat. Vor drei Jahren. Da war er 70 Jahre alt.

Schon um halb elf ist der Laden voll

Es ist halb elf, und der Laden ist voll. Alle vier Stühle im Erdgeschoss sind besetzt, Helmut Knapwerth ist mit einem Kollegen alleine. „Ein bisschen eng alles, wir renovieren gerade“, sagt Helmut Knapwerth und deutet mit einer Schere in der Hand ins Hochparterre, wo Stühle und Waschbecken mit Malerfolie abgehängt sind.

Sechs Stufen sind es von unten nach oben. Sechs Stufen bis zur Garderobe, wo die Jacken der Kunden aufgehängt werden. Bis in die Küche, wo der Kaffee gekocht wird. Bis zum Mixraum, wo die Farben angerührt werden. Bis zur Waschmaschine, bis zur Toilette. Sechs Stufen. Rauf, runter, rauf, runter. Immer wieder. Den ganzen Tag lang.

Zu Weihnachten, sagt Helmut Knapwerth und prüft mit leicht zusammengekniffenen Augen die Länge der Haare seines Kunden, habe er so ein Fitnessding bekommen, das die Schritte zählt. An Tagen wie heute sind es 10.000. Nur im Laden. Zu Hause macht er das Gerät meistens ab. „Das ist mein Sportprogramm“, sagt er und lacht. Bis vor ein paar Jahren hat er Tennis gespielt. Aber irgendwann hat es die Schulter nicht mehr gemacht. „Jetzt hält mich die Arbeit fit. Jung!“, sagt er. Und, jetzt mal ehrlich: Sieht er nicht jung aus?! Es ist keine Frage. Es ist eine Feststellung.

Er arbeitet rund 50 Stunden die Woche

Schnipp, schnipp, noch ein paar letzte Schnitte – und fertig ist sein Kunde. Schnell die Treppe hoch und das Jackett des Herren holen. In der Tasche des Kunden klimpern ein paar Geldmünzen. 21 Euro bitte, bis zum nächsten Mal. Seine nächste Kundin wartet schon. Hildegard Jürgens, 91 Jahre alt. Helmut Knapwerth reicht ihr einen Arm, geleitet sie zu einem Stuhl und nimmt ihr den Gehstock ab.

Er ist mit Blumen bemalt. Kurz die Treppe rauf, Jacke und Tasche wegbringen, und wieder runter. Dann kurz noch mal hoch: Die alte Dame braucht ihre Handtasche noch mal. Hoch, runter. Hier bitte, die Tasche. Dann wieder rauf, Farbe anrühren. Frau Jürgens bekommt heute die Haare gefärbt.

Auf einer altmodischen Karteikarte hat Helmut Knapwerth die Nummer der Farbe vermerkt, die Frau Jürgens hat. Doch er muss nicht nachgucken, er weiß auch so, welche Töne er mischen muss. Frau Jürgens ist seit 45 Jahren seine Kundin. Helmut Knapwerth eilt die Treppe runter, stellt die Schüssel auf einen kleinen Rollwagen, nimmt den Pinsel in die Hand und hält inne.

Da war doch noch was! Der Kaffee. Oben in der Küche. Sind ja nur sechs Stufen, kein Problem. Die langen Tage auf den Beinen machen ihm nichts. Bis 19 Uhr arbeitet er. Von Montag bis Sonnabend. Mehr als 50 Stunden pro Woche. Urlaub? Höchstens mal drei Wochen.

In 55 Jahren war er nur zehn Tage krank

Solange seine Knie mitmachen und der Rücken, ist doch alles gut. Vor ein paar Jahren hatte er mal Probleme, immer Krämpfe in der Wade, wenn er zu lange auf den Beinen war. Ein Verschluss. „Brauchte einen Stent“, sagt Herr Knapwerth, während er die Farbe aufträgt und blickt noch nicht mal auf. War keine große Sache, er musste nur eine Nacht im Krankenhaus bleiben, ist am nächsten Morgen schon wieder entlassen worden. Vom Krankenhaus ist er direkt in den Laden gefahren.

Krank war er eigentlich nie, fast nie. Na gut, da war mal was mit der Schilddrüse. Aber sonst? Wenn es hoch kommt, war er in all den Jahren zehn Tage krank. Zehn Tage in 55 Jahren! „Ich geh auch dann arbeiten, wenn andere zu Hause bleiben würden“, sagt er. Stolz. Wer selbstständig ist, denke anders. Es ist mehr als Pflichtgefühl, mehr als Verantwortungsbewusstsein. Es ist ein Lebensmotto. So hat er auch seine Tochter erzogen. Erst mal probieren. Erst mal hingehen. Erst mal machen. Nach Hause gehen kann man ja immer noch. Hat er aber nie gemacht. Toi, toi, toi, war auch viel Glück dabei, das weiß er.

430 Euro Rente bekommt er im Monat

Ans Aufhören hat er nie gedacht. Dafür liebt er seinen Job zu sehr. Den Kontakt mit den Kunden, die Gespräche. Das Menschliche. Warum zu Hause rumsitzen? Seine Frau arbeitet ja auch noch. Die ist allerdings auch erst 55 Jahre alt. Und das Geld braucht die Familie auch. Tochter Evelyn (24) studiert in Bonn Geografie, wird finanziell unterstützt. „Sie will mal in die Klimaforschung oder Entwicklungszusammenarbeit“, sagt Helmut Knapwerth und klingt wie nur Väter klingen, wenn sie von ihren Kindern sprechen. Dass Evelyn den Laden übernimmt, hat er nie erwartet. Jeder soll sein eigenes Ding machen, findet er.

Während bei Frau Jürgens die Farbe einwirkt, begrüßt Helmut Knapwerth schon seine nächste Kundin. „Einmal Kahlschlag bitte“, sagt die Dame und lacht. Sie musste plötzlich ins Krankenhaus, konnte ihren letzten Friseurtermin nicht wahrnehmen. Herr Knapwerth hört zu, fragt nach, teilt ihre Empörung über die lange Wartezeit in der Notaufnahme. Zehn Stunden! Du meine Güte, das gibt es ja gar nicht.

Kundin bringt eigenes Schampoo mit

Im Spiegel sucht er den Blick seiner Kundin, nickt. Das Gespräch ist ihm genauso wichtig wie die handwerkliche Arbeit. Die alte Dame kramt in ihrer Handtasche und holt eine Flasche Haarshampoo heraus. Sie bringt immer ihr eigenes mit. Das andere Zeug verträgt sie nicht. Herr Knapwerth kennt das. Hat selbst eine Allergie. Gegen das Shampoo? Gegen alles, sagt er und streicht sich über die Hände. Seine Finger sind geschwollen.

Und wieder rauf und runter. Bei der Arbeit am Stuhl. Helmut Knapwerth beugt sich runter, richtet sich auf. Betrachtet die Frisur von oben und unten, von vorne, hinten, der Seite. Er läuft um den Stuhl herum, geht leicht in die Knie. Früher hat ihm das nichts ausgemacht, jetzt zwickt es im Rücken, im Nacken. Der Arzt hat Physiotherapie verordnet, und – wie nennt man das noch? Irgendwas Heißes. Fango? Heiße Rolle? Egal, Herr Knapwerth setzt die Schere an.

Mit den Kunden alt und grau geworden

Er braucht nicht viel. Nur zwei Scheren und einen Rasierer. Dafür kostet eine Schere aber auch 600 Euro. 600 Euro! Das muss man sich mal vorstellen! Das ist mehr, als er im Monat an Rente bekomme. 430 Euro sind es. Weil er als selbstständiger Handwerker nur die vorgeschriebenen 18 Jahre in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat. Jetzt kann er davon noch nicht mal seine Krankenversicherung bezahlen. Eine private. 700 Euro kostet die im Monat. Früher, als er jung war, sei der Beitrag spottbillig gewesen. Niedriger als bei der gesetzlichen. Aber jetzt? Mit über 70?

Ein letztes Mal noch mit der Effilierschere durch die Haare, damit die Frisur besser fällt, und fertig. Schnell die nas­sen Handtücher nach oben bringen, die Jacke der Dame holen und wieder runter zur Kasse. Er muss ein Taxi für seine Kundin bestellen. Der Doktor im Krankenhaus hat gesagt, dass sie kürzertreten soll. Sie ist 79 Jahre alt. Sechs Jahre älter als Helmut Knapwerth.

Er ist mit seinen Kunden zusammen alt geworden, grau. Viele kennt er seit Jahrzehnten. Schon aus dem alten Salon seines Onkels, in dem er gelernt hat. 17 war er da, gerade fertig mit der Realschule. Für die Lehre ist er von Stade zu seinem Onkel Gustl und seiner Tante Elisabeth nach Hamburg gezogen. Die beiden hatten keine Kinder, er sei wie ein Sohn für sie gewesen, sagt Helmut Knapwerth, während er bei Frau Jürgens die Farbe auswäscht.

Sein Onkel war Weltmeister der Friseure

Die alte Dame nickt. Sie kennt Herrn und Frau Helms noch persönlich, war lange Kundin in ihrem Salon in der Dorotheenstraße, Ecke Maria-Louisen-Straße. „Das muss man sich mal vorstellen …“, sagt Herr Knapwerth und spricht lauter, um das Rauschen des Wassers zu übertönen. 82 Jahre gab es den Salon in Winterhude, seit 1933 schon. Sein Onkel Gustl, der es tatsächlich zum Weltmeister der Friseure geschafft hatte, eröffnete ihn damals. Und dann wird ihm plötzlich der Mietvertrag gekündigt. Einfach so.

Die Entscheidung, einen neuen Laden zu suchen, hat er zusammen mit seinen Mitarbeitern getroffen. „Is ja nichts, was man einfach alleine bestimmen kann“, sagt Helmut Knapwerth. Schließlich sei er da schon 70 gewesen. Zu alt, um einen Neustart alleine zu stemmen.

„Wenn die Mitarbeiter mich nicht unterstützt hätten ...“ Der Rest des Satzes hängt in der Luft wie der Duft des Haarsprays. Fast scheint es so, als ob es dazu nichts mehr zu sagen gibt, doch dann greift Helmut Knapwerth das Thema noch mal auf. Ja, es stimmt. Ohne die Mitarbeiter hätte er es nicht geschafft – und ohne die Kunden. Seine Kunden, denen er oft schon seit Jahrzehnten die Haare schneidet und färbt, einlegt und frisiert.

Manche Kunden kommen mit dem Taxi

Die meisten von ihnen sind ihm in den neuen Salon an der Bussestraße gefolgt. Auch wenn dieser für viele von ihnen schwerer zu erreichen ist, einige jetzt sogar mit dem Taxi kommen müssen. „Friseur ist Vertrauenssache“, sagt Frau Jürgens, während Herr Knapwerth ihr den Kopf trocken rubbelt. „In meinem Alter will man sich nicht mehr an einen neuen Friseur gewöhnen.“ Sie ist alle 14 Tage bei ihm. Zum Waschen und Legen. Dass er Friseur werden will, stand für Helmut Knapwerth selbst mit 13 oder 14 fest.

Der Weg dorthin wurde ihm schon als kleiner Junge geebnet, vielleicht sogar vorbestimmt. Durch Onkel und Tante, die er oft in Hamburg besucht – und zur Arbeit begleitet hat. Mit denen er in den Urlaub gefahren ist zu einer Zeit, als man noch gar nicht in Urlaub fuhr. Und die ihn immer als ihren Nachfolger betrachtet haben. „Ohne Helms hätte alles auch anders kommen können ...“, sagt Helmut Knapwerth und greift zum Föhn. Der Rest des Satzes geht fast im lauten Brausen des Haartrockners unter, ist nur bruchstückchenhaft zu verstehen. „Konnte gut schreiben ... Geschichten ausdenken ... im Verlag arbeiten ... Journalist ...“.

Während Helmut Knapwerth die Haare über eine Rundbürste föhnt, sagt er, dass man den Satz aber auch anders vollenden könnte. „Ohne Helms hätte ich mit 24 keinen eigenen Salon gehabt.“ Das muss man sich mal vorstellen. Mit 24 Jahren Chef sein, richtig Geld verdienen. Nachdem er im letzten Lehrjahr gerade mal 65 Mark verdient hat.

Er war der einzige Nachfolger seines Onkels

Heute weiß Helmut Knapwerth, dass er eigentlich noch zu jung für all das war. Für die Verantwortung, die Krise, zu der es ein paar Monate nach Salonübernahme kam. Als plötzlich drei Mitarbeiter aufhörten, Kunden wegblieben, die Umsätze einbrachen. Oftmals sei es richtig knapp gewesen. „Wenn Du mehr Ausgaben als Einnahmen hast, bekommste schon Angst“, sagt Helmut Knapwerth. Er war der einzige Nachfolger, den sein Onkel hatte. Gustl Helms war 63 Jahre alt, als er sich zur Ruhe setzte.

Im Salon von Helmut Knapwerth gibt es vier Stühle – und viele Stammkunden
Im Salon von Helmut Knapwerth gibt es vier Stühle – und viele Stammkunden © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Helmut Knapwerth stellt den Föhn aus und fängt an, die Haare von Frau Jürgens zu toupieren. Eigentlich, so sagt er, wollte er den Salon ja gemeinsam mit seinem Bruder übernehmen. Günter, zwei Jahre älter als er. Mit dem er sich in der winzigen Wohnung seiner Eltern ein Zimmer geteilt hat. Mit dem er so richtig dicke war. Bis Günter zum Militär musste. Er war gerade mit der Ausbildung fertig, natürlich auch als Friseur bei Helms, und Helmut steckte mitten drinnen. Zweites oder drittes Lehrjahr muss das gewesen sein. Genau weiß er das nicht mehr. Aber er erinnert sich noch, dass er Koteletten hatte. Ein bisschen wie Elvis.

Pause. Helmut Knapwerth sucht nach den passenden Worten, um das Unbeschreibliche zu beschreiben. Es gibt sie nicht. Damals nicht. Heute nicht. Nie. Nichts zu sagen. Außer: Günter war Kradfahrer. Fuhr vor der Kolonne. Ein Lkw hat nicht aufgepasst. Er ist nur 21 Jahre alt geworden.

Helmut Knapwerth nimmt ein nasses Handtuch vom Rand des Waschbeckens und wischt den Wasserhahn trocken. Er tropft, den ganzen Vormittag schon. Ein Jahr nach dem Tod von Günter sollte Helmut auch zum Bund. Himmel noch mal! Bei seiner Vorgeschichte! Er musste ganz schön kämpfen, bis er freigestellt wurde.

Einer seiner drei Mitarbeiter wird bald 70

Langsam steigt Helmut Knapwerth die Treppe hoch, legt das Handtuch auf die Waschmaschine und holt die Jacke von Frau Jürgens. Neben der Kasse steht ein Sparschwein. Es ist seins. Die anderen stecken ihr Trinkgeld meistens direkt ein. Drei Mitarbeiter hat er noch. Tageweise. Montag und Sonnabend ist er meistens allein.

Er ist froh, dass der Laden nicht ihm alleine gehört, das wäre ihm dann doch zu viel. In seinem Alter. Er teilt sich das Geschäft, die laufenden Kosten und die Verantwortung mit einer Kosmetikerin. Vier Stühle hat er. „Das reicht für mich und meine paar Leute“, sagt Helmut Knapwerth und stößt mit dem Ellbogen seinen Kollegen an. „Sag doch auch mal was, Siggi.“

Sigfried Retslag dreht gerade einer alten Dame die Haare auf. Er und Helmut Knapwerth kennen sich schon eine Ewigkeit, schneiden sich oft gegenseitig die Haare. Wie lange sie schon zusammenarbeiten? Mal überlegen ... „Das war kurz bevor mein Kleiner ein Jahr alt geworden ist“, sagt Sigfried Retslag. Sein Sohn wird dieses Jahr 42. „Wie alt bist Du denn dann“, fragt Helmut Knapwerth. 59? Oder schon 60? Sigfried Ret­slag grinst. Er wird bald 70. Aber das ist eine andere Geschichte.

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