Hagen. Tausende junge Menschen in NRW suchen noch eine Lehrstelle. Die Nachfrage in Betrieben ist so hoch, dass es weiter Chancen in allen Berufen gibt.
Von Jahr zu Jahr nimmt die Zahl der Auszubildenden in Nordrhein-Westfalen ab. Das gilt auch für 2023, obwohl noch knapp 27.000 junge Menschen in NRW auf der Suche nach einer Lehrstelle sind. Experten sind sich einig: Es mangelt auch an Infrastruktur im Land. „Wenn Sie einmal versuchen, von Dortmund mit Bus und Bahn ins Sauerland zu kommen, sehen Sie, dass es schwierig wird“, nennt Handwerkskammerpräsident Berthold Schröder ein simples und in der Praxis gleichzeitig komplexes Problem. Denn in Südwestfalen oder dem Münsterland sind viel mehr freie Lehrstellen zu haben als im Ruhrgebiet.
Eine Million Fachkräfte in kommenden zehn Jahren in Rente
Insgesamt haben junge Leute auf der Suche nach einer Lehrstelle in Nordrhein-Westfalen auch nach dem offiziellen Beginn des Ausbildungsjahres zum 1. August beziehungsweise 1. September noch gute Chancen, versichern die Experten aus der Wirtschaft und der Arbeitsagenturen. „Ein Start ist auch zum 1. Oktober oder 1. November noch möglich“, wirbt Berthold Schröder. Gesucht werde in allen Berufen, versichert Nordrhein-Westfalens oberster Handwerker (Präsident des Westdeutschen Handwerkskammertages).
Besonders viel Auswahl haben Bewerberinnen und Bewerber deshalb in der Region Südwestfalen, weil eine starke Wirtschaft auf vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl trifft. Jedenfalls im Vergleich zum Ruhrgebiet und auch der Bergischen Region, wo es noch etwas mehr Suchende als Stellen gibt.
Der Wettlauf der Wirtschaft um neue Auszubildende nimmt allerdings flächendeckend seit Jahren zu. Das ist nichts Neues, und daran wird sich auch in Zukunft voraussichtlich nichts mehr ändern. Laut Bundesagentur für Arbeit erreichen in den kommenden zehn Jahren rund eine Million Menschen mit dualer Berufsausbildung die Rente. Die Formel: Wenn 100 Menschen mit Berufsabschluss gehen, kommen in Zukunft nur 70 qualifizierte nach.
Immer noch bessere Chancen haben große renommierte Konzerne, schwieriger ist es für kleinere und mittelständische Unternehmen. Selbst in der Industrie. „Hier ziehen sich Betriebe bereits aus der Ausbildung zurück, weil sie keine geeigneten Bewerber mehr bekommen“, sagt Stefan Hagen, der als Vize-Präsident der IHK NRW sowohl Handel und Dienstleistungen als auch Industrie vertritt. Hagen räumt ein, dass in der Vergangenheit die Entwicklung teilweise beobachtet worden sei, als ginge es die Industrie wenig bis nichts an. Mittlerweile versuchen die Industrie- und Handelskammern mit der Kampagne #könnenlernen über Social Media bei jungen Menschen für eine Ausbildung zu werben.
Trotz neuer Bemühungen und einer in NRW seit beinahe zehn Jahren sogar ausgesprochen systematischen Berufsorientierungsphase für Schülerinnen und Schüler (Kein Abschluss ohne Anschluss), reichen die Anstrengungen offenbar nicht aus. Ein Indiz sind die Top-Ten der beliebtesten Berufe, die ziemlich stabil bleiben, obwohl sich Berufsbilder und Ausbildungsinhalte ständig weiterentwickeln. „Unter einem Kfz-Mechatroniker können sich die jungen Leute etwas vorstellen, unter einem Industriemechatroniker schon nicht mehr“, beschreibt Hagen, dass die Berufsorientierung weiter verbessert werden müsse, und dass es sich lohnen könne, auch die Eltern stärker ins Boot zu holen.
Welches Potenzial 65.000 junge Arbeitslose in NRW haben
Zumal in Zukunft gilt, was der neue Chef-Arbeitsmarktexperte in NRW, Roland Schüßler, bei der vorläufigen Bilanz zum Ausbildungsstart ausspricht: „Jetzt ist es passiert, der Ausbildungsmarkt ist ein Bewerberinnen- und Bewerbermarkt geworden. Schüßler ist als Vorsitzender der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit Herr der Zahlen, wenn es um den Arbeits- und Ausbildungsmarkt geht. Eine Zahl ist bezeichnend für die Entwicklung: Erstmals seit entsprechende Daten zu Beginn der 80er Jahre von der Bundesagentur für Arbeit in dieser Form erhoben werden ist die Zahl der Bewerber in NRW für eine duale Berufsausbildung im August unter die Marke von 100.000 gerutscht.
Auf dem Papier gibt es in Nordrhein-Westfalen noch eine Gruppe junger Menschen, die aus Sicht der Wirtschaft nicht aus dem Fokus geraten darf, wie die am Donnerstag veröffentlichten Arbeitsmarktzahlen zeigen: Knapp 65.000 junge Menschen unter 25 Jahren sind aktuell in NRW arbeitslos. „Wir müssen auch weiter über Teilqualifikation sprechen“, sagt Roland Schüßler. Viele der 65.000 hätten weder Schulabschluss noch Ausbildung - aber angesichts der Arbeits- und Fachkräftenot durchaus eine Chance.