Essen. Stahlkonzern prüft Alternativen für Grünstahl. Geriete Deutschlands Wasserstoff-Strategie ins Wanken, wäre das eine Katastrophe für den Standort.
Stahl aus Deutschland muss grün werden - oder er verschwindet. Es war kein radikaler Klima-Ideologe, der das vor vier Jahren gesagt hat, sondern Deutschlands größter Stahlhersteller Thyssenkrupp. Er habe keinen Plan B, betonte der damalige Stahlchef Bernhard Osburg. Sein Nachfolger Dennis Grimm und die Konzernspitze des Essener Mutterkonzerns bekennen sich zum Umstieg auf grünen Stahl, stellen nun aber das Wie infrage, weil sie ausufernde Kosten befürchten. Das ist nicht verwerflich, sondern betriebswirtschaftlich zwingend geboten. Zumal die Angst, dass der vor Jahren gemeinsam eingeschlagene Weg in eine Sackgasse führen könnte, nicht nur bei Thyssenkrupp umgeht, sondern bei allen Stahlkonzernen in Deutschland.
Das große Problem daran ist jedoch, dass ein Strategieschwenk von Thyssenkrupp den bundesweiten Kurs für eine klimaschonendere Industrie durchkreuzen würde. Der Abschied des Branchenprimus von der Wasserstoff-basierten Stahlerzeugung wäre ein verheerendes Signal für die gesamte deutsche Industrie. Er würde den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft, auf den auch die Chemieindustrie und viele andere energieintensive Produktionszweige setzen, infrage stellen. Auf die Gefahr hin, dass Deutschland beim Versuch, seine Industrie für eine klimaneutrale Zukunft zu rüsten, viele Jahre verschenkt hätte. Es wäre eine Katastrophe für den Standort D.
Kann Wasserstoff wirklich der Energieträger der Zukunft werden?
Nicht trotzdem, sondern genau deshalb ist es richtig, diese Debatte jetzt sehr offen und bitte ehrlich zu führen. Gerade für das Ruhrgebiet, das sich aufgemacht hat, Vorreiterregion für die Wasserstoffwirtschaft und grüne Industrien zu werden, ist das von existenzieller Bedeutung. Die anfängliche Euphorie darüber, endlich mal wieder bei einer neuen Technologie vorne dabei zu sein, ist an Rhein und Ruhr längst der Sorge gewichen, ob das wirklich funktioniert. Ob Wasserstoff (H2), der designierte Energieträger der Zukunft, sich wirklich durchsetzen kann.
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Der Plan für das bundesweite Wasserstoff-Kernnetz steht, Energiekonzerne, Netzbetreiber, Universitäten und Kommunen haben im Revier Dutzende H2-Initiativen gegründet. Sie gehen weit über Thyssenkrupp hinaus, wollen am Ende jeden Betrieb erreichen, der seine Produktion umstellen will. Doch was werden die anderen denken, wenn mit Thyssenkrupp der mit Abstand größte H2-Kunde im Ruhrgebiet die Reißleine zieht?
Die in Duisburg bereits im Bau befindliche Direktreduktionsanlage (DRI), die zuerst mit Erdgas und später mit grünem Wasserstoff betrieben werden soll, wird mit zwei Milliarden Euro vom Staat subventioniert. Nun steigen die Kosten für die Anlage und damit der Eigenanteil von Thyssenkrupp. Die größte Sorge dahinter ist aber, dass sie im Betrieb zu teuer und damit absehbar unrentabel wird. Denn ob, wann und vor allem zu welchem Preis grüner Wasserstoff in ausreichenden Mengen verfügbar sein wird, weiß niemand. Wie auch, wenn Produktion und Infrastruktur erst entstehen müssen? Ein Technologiewandel dieses Ausmaßes bedeutet immer, dass jeder Weg, der zum Ziel führen soll, ein unbekannter ist.
Thyssenkrupp denkt über Umstieg auf Elektrostahl nach
Der vom neuen Stahlchef Grimm als Alternative genannte Elektrostahl wäre dagegen eine etablierte Technik und ebenfalls deutlich klimaschonender als der bisher mit Kokskohle gekochte Stahl. Mit Grünstrom betriebene Elektrolichtbogenöfen stoßen im Vergleich zu den herkömmlichen Hochofen-Werken nur einen Bruchteil an CO₂ aus. Das macht sie zu einer denkbaren Brückentechnologie auf dem Weg vom schwarzen zum grünen Stahl. Weil auch Elektrostahl noch nicht ohne fossile Brennstoffe auskommt, bräuchte aber auch er alternative Energieträger wie Wasserstoff, um wirklich klimaneutral zu werden. Und: Bisher kochen die Hersteller vorwiegend Stahlschrott, der nur begrenzt verfügbar ist. So klimaschonend Recyclingstahl auch ist - er wird den Bedarf der Industrie nicht gänzlich decken können.
Deshalb denken die Stahlkonzerne darüber nach, auch frisches Roheisen in Elektroöfen zu kochen. Dann bleibt aber die Frage, woher das Roheisen kommt und wie grün es produziert wurde. Denkbar wäre der Zukauf ganzer Brammen oder der Import von Eisenschwamm aus DRI-Anlagen. In Ländern der südlichen Halbkugel könnten sie günstiger arbeiten, wenn etwa der Wasserstoff direkt vor Ort mit günstigem Solarstrom gewonnen wird. Das wäre allerdings eine ebenfalls unsichere Wette darauf, dass andere schaffen, was wir in Deutschland nicht hinkriegen.
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Nur mit eigenen DRI-Anlagen hätten es hiesige Stahlkonzerne in der Hand, geschlossene, grüne Prozessketten zu schmieden - und sich damit von der Billigkonkurrenz aus China abzuheben. Deshalb hat sich die Politik entschieden, der heimischen Industrie dafür enorme Anschubfinanzierungen zu geben. Doch daraus dürfen keine Dauersubventionen werden. Jedes Nischenprodukt, das plötzlich zum Massenprodukt werden soll, ist anfangs sehr teuer und wird erst mit dem Mengenhochlauf günstiger. Vielleicht muss der Staat der Industrie in der Übergangsphase helfen. Vielleicht braucht es doch die Deutsche Stahl AG, um diese Industrie zu retten. Vielleicht ist das alles aber auch vergebens, und wir importieren bald wie fast alle anderen Länder unseren Stahl aus Fernost.
Dass Thyssenkrupp die Grundsatzdebatte beginnt, kann niemanden überraschen
Klar ist nur eines: Wenn Deutschland an seinen flächendeckenden Wasserstoff-Plänen auch für die anderen Industriezweige festhalten will, braucht es dringend Signale aus Berlin, die der Wirtschaft zumindest etwas mehr Planungssicherheit geben. Entlastungen bei den Energiepreisen etwa, oder Hilfen für den Aufbau der Infrastruktur. Geriete der gesamte Wasserstoffhochlauf in Gefahr, wäre das nicht nur eine Blamage für unser Hightech-Deutschland. Sondern auch ein Rückschlag, der ganze Industriezweige gefährden würde. Das darf nicht passieren.
Thyssenkrupp sieht seine Stahlindustrie längst in Existenznot. Dass die höchst unbequeme Grundsatzdebatte über die deutsche Wasserstoffstrategie samt DRI-Anlagen in Duisburg beginnt, kann daher niemanden überraschen. Es wäre aber grundfalsch, sie dem Ruhrkonzern zu überlassen. Bund und Länder müssen sich dringend selbst hinterfragen, ihre Annahmen prüfen, Alternativen durchdenken und letztlich der Industrie sagen, worauf sie sich verlassen kann - und worauf nicht.