Wittgenstein. Politiker in Berlin, Dresden und Essen werden angegriffen: In Siegen-Wittgenstein sind es bislang nur zerstörte Plakate und offene Hetze.

Der Hass nimmt zu. Politische Auseinandersetzungen werden zu Straßenkämpfen. Das zeigt die jüngste Entwicklung rund um die Europawahlen. Die Berliner Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) wurde bei einer politischen Veranstaltung von einem Mann am Kopf verletzt. Die Polizei hat rechtsextreme Täter ermittelt, die den SPD-Spitzenkandidaten der Europawahl in Sachsen, Matthias Ecke, ins Krankenhaus geprügelt haben. Und in Essen wurden die Grünenpolitiker Rolf Fliß und Kai Gehring angegriffen.

In Siegen-Wittgenstein sind mehrere Wahlplakate der Grünen abgerissen worden: Siegen
In Siegen-Wittgenstein sind mehrere Wahlplakate der Grünen abgerissen worden: Siegen © Grüne Siegen-Wittgenstein | Grüne Siegen-Wittgenstein

Solche gewalttätigen Angriffe hat es in Wittgenstein noch nicht gegeben. Aber auch hier wird die politische Auseinandersetzung immer rauer. Dabei stehen besonders die Grünen im Fadenkreuz politischer Gegner. Und die Qualität der Auseinandersetzung verändert sich. Das zeigte sich Anfang April. Damals hatte die Braugemeinschaft Edertal mit einem Plakat an der Eingangstür ihres Brauhauses Schlagzeilen gemacht: „Grün*innen Wähler*innen hier unerwünscht“ war dort zu lesen. Nach der öffentlichen Diskussion in den sozialen Medien erklärten sich die Betreiber und hängten das Plakat schließlich ab.

Weil wir die weltoffenste Partei sind. Wir sind fremdenfreundlich und bei uns finden queere Menschen und auch die Genderdebatte einen Platz. Das stößt bei Konservativen und Rechten auf Hass.
Bernd Schneider - Über die Ursachen des Hasses

Jetzt, pünktlich zur Europawahl, nimmt die Auseinandersetzung erneut Fahrt auf, wie der Bad Berleburger Grünen-Stadtrat Bernd Schneider berichtet. Kreisweit sind Plakate zerstört, abgerissen oder sogar gestohlen worden. „Ich bin persönlich noch nicht attackiert worden“, sagt Schneider, der auch Sprecher des Stadtverbandes ist. Aber Schneider sieht eine Entwicklung: „Zwei unserer großen Wahlplakate am Ortsausgang von Erndtebrück sind in der Mittagszeit zwischen 12 und 14 Uhr gezielt umgestoßen worden. Das hatten wir noch nie“. Bislang waren die großen Plakatwände - die „Wesselmänner“, wie sie in Anlehnung an die Herstellerfirma heißen - beschmiert oder beklebt worden. Dass es Fahrtwind oder andere Gründe haben könnte, kann Schneider ausschließen, weil die Plakatwände der anderen Parteien an gleicher Stelle noch stehen. Schneider hat Anzeige erstattet.

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Schneider sieht psychologisches Muster

Schneider hat auch eine Theorie, warum es die Grünen besonders stark treffe: „Weil wir die weltoffenste Partei sind. Wir sind fremdenfreundlich und bei uns finden queere Menschen und auch die Genderdebatte einen Platz. Das stößt bei Konservativen und Rechten auf Hass.“
Die heutige Zeit sei von sozialen Medien wie Facebook, Instagram und TikTok geprägt, sagt Schneider. Speziell bei TikTok sieht Schneider eine „Affinität zu rechtem Gedankengut“. Das Problem: Die jungen Menschen werden von diesen Medien besser abgeholt, als von anderen. „Solange die dann in ihrer Blase sind, sind sich alle einig. Wenn sie aber aus der Blase in die reale Welt kommen, gibt es Konflikte“, sagt Schneider. Einen weiteren Punkt, der zu Radikalisierung führt, macht der Diplompsychologe an einem psychologischen Mechanismus fest: „Es tauchen immer mehr Feindbilder auf.“ Die Abgrenzung und Ausgrenzung von Menschen wird benutzt, um die Gruppe zusammenzuschweißen. Der kleinste gemeinsame Nenner reicht aus, wenn man sich auf ein Feindbild verständigt. Schneider möchte so nicht Politik machen. „Ich bin schon immer politisch interessiert und engagiert gewesen“, sagt er. Parteipolitik macht Schneider aber erst seit 2010. Und dabei ist ihm offene, auch kontroverse Diskussion ohne Gewalt besonders wichtig.

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Nach den jüngsten gewalttätigen Angriffen auf Politiker von SPD und Grünen und den umgestürzten und heruntergerissenen Wahlplakaten machen die Grünen in Siegen-Wittgenstein klar, dass es so nicht weiter gehen könne: In einer Pressemitteilung verurteilen sie die Angriffe auf Vertreter demokratischer Parteien, rechtsextreme Parolen und Hassbotschaften. Das seien Angriffe auf Grundwerte, Freiheit und Demokratie.

CDU-Kandiat Liese „schockiert“

Ähnlich reagiert auch der CDU-Europaabgeordnete Dr. Peter Liese: „Ich bin schockiert über die Attacken auf Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer“ und forderte: „Die Täter müssen hart bestraft werden und wir Demokraten müssen jetzt gegen Hass und Gewalt zusammenstehen“. Liese selbst betont: „Glücklicherweise bin ich persönlich noch nie körperlich angegriffen worden. Ich wurde allerdings im Internet bedroht. Während der Corona-Pandemie stand ich auf einer Liste von Corona-Leugnern, die mit einem Galgen symbolisierte, dass man uns, mich und andere Politikerinnen und Politiker, einer ‚gerechten‘ Strafe zuführen wollte“, berichtet Liese von seinen eigenen Erfahrungen. „Die verbale Aggression im Internet hat zugenommen. Glücklicherweise hat sich das bei mir und meinem Team noch nicht in körperlichen Angriffen manifestiert. Wir dürfen uns von diesen Angriffen aber auf keinen Fall einschüchtern lassen - wir müssen um unsere Demokratie kämpfen“, so Liese.