Bad Berleburg. „Wer seine Nervenzellen optimal nutzt, kann das Risiko einer Demenz senken“, sagt der in Bad Berleburg praktizierende Neurologe Dr. Lindemuth.

Für Außenstehende wirkt es vielleicht manchmal befremdlich, wenn der geliebte Nachbar, der sonst immer eine Antwort parat hat, plötzlich nicht mehr weiß, was er sagen soll. Wie es seiner Tochter geht, die seit einigen Jahren in einem neuen Ort wohnt. In welchem, weiß er nicht mehr. Und auch wo der Schlüssel zu seinem Auto liegt, mit dem er Einkaufen fahren wollte, obwohl es eigentlich Sonntag ist, hat er vergessen. Es macht ihn wütend. Er schämt sich. Dabei geht es vielen Menschen ähnlich.

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Laut neuesten Berechnungen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft (DAG) leben in Deutschland derzeit rund 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung. Die meisten von ihnen sind von der Alzheimer-Krankheit betroffen – so auch im Kreis Siegen-Wittgenstein. „Die meisten Menschen, die zu uns in die Sprechstunde kommen, haben diese Form der Demenz“, so Dr. med. Rainer Lindemuth, Arzt für Neurologie in der Ärztlichen Gemeinschaftspraxis Neurologie / Psychiatrie in Siegen und Bad Berleburg. Eines der Schwerpunkte der Praxis ist die Versorgung von MS-Erkrankten, Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen, Demenzerkrankungen, Parkinson-Krankheit und Schlaganfall. Und: Die Nachfrage von demenzkranken Menschen nach Beratung in der Sprechstunde ist hoch und die Termine bereits ein Halbjahr im Voraus belegt.

Oft sind es die Angehörigen, die etwas merken

Oft seien es vor allem die Angehörigen, die mit den Betroffenen in die Gemeinschaftspraxis in Siegen und in die Zweigstelle Bad Berleburg kommen. „Sie merken, dass etwas anders ist – sei es, dass der Betroffene einer TV-Sendung oder den Nachrichten nicht mehr folgen kann, nicht mehr weiß, wie er sich anziehen soll oder eben andere alltägliche Dinge durcheinandergeraten, die sonst problemlos funktionierten.“ Bei Dr. Lindemuth und seinen Kollegen suchen sie Hilfe – für sich und ihren Angehörigen. Viele der Betroffenen mit starken Gedächtnisstörungen, die Dr. Lindemuth in der Praxis begrüßt, sind über 70 Jahre alt. „Die meisten von ihnen haben eine Alzheimer-Erkrankung in isolierter Form oder in Kombination mit Hirndurchblutungsstörungen.

So wird Demenz diagnostiziert

Wir überprüfen die Diagnose am typischen Verlauf und führen in der Praxis weitere Untersuchungen durch, so z.B. Gedächtnistests. Regelhaft wird auch eine Bildgebung (Kernspintomographie oder Computertomographie) des Gehirnes veranlasst.“ Jüngere Patienten werden zu weiteren, speziellen Untersuchungen in Spezialambulanzen überwiesen: „Bei Erkrankten unter 65 Jahren sollte man sehr genau hinschauen“, so Dr. Lindemuth. Einen Patienten unter 40 aber habe er noch nicht gehabt. „Das sind eher Raritäten.“ Die meisten Menschen erkranken erst nach dem 65. Lebensjahr an Demenz – das zeigen auch die Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, wonach weniger als 2 Prozent aller Demenzerkrankungen auf das Alter unter 65 Jahren fallen. Übrigens: Eine im British Medical Journal veröffentlichte Studie belegt, dass ein gesunder Lebensstil dazu beitragen kann, erst später an Demenz zu erkranken oder aber den Verlauf zu entschleunigen.

Demenz verläuft ganz unterschiedlich

„Wer seine Nervenzellen optimal nutzt, kann das Risiko einer Demenzerkrankung und deren Verlauf eher senken, als jemand, der dies nicht macht“, so Dr. Lindemuth. „Das heißt aber nicht, dass ein Professor vor der Demenz geschützt ist.“ Dabei ist Demenz nicht gleich Demenz. Charakteristisch für die Alzheimer-Krankheit ist ihr schleichender, nahezu unmerklicher Beginn. „Anfangs treten leichte Gedächtnislücken und Stimmungsschwankungen auf, die Lern- und Reaktionsfähigkeit nimmt ab. Hinzu kommen erste Sprachschwierigkeiten. Die Erkrankten benutzen einfachere Wörter und kürzere Sätze oder stocken mitten im Satz und können ihren Gedanken nicht mehr zu Ende bringen. Örtliche und zeitliche Orientierungsstörungen machen sich bemerkbar. Die Betroffenen werden antriebsschwächer und verschließen sich zunehmend Neuem gegenüber“, heißt es unter anderem in einer Definition der DAG. Als zweithäufigste Form der Demenz sei die „vaskuläre Demenz“ genannt. Sie entsteht durch Durchblutungsstörungen im Gehirn und ist meist die Folge mehrerer kleiner Schlaganfälle.

Verschieden Symptome

Die Frontotemporale Demenz (FTD) hingegen sei eher seltener – die Lewy-Body-Demenz sogar eine Rarität, wie Dr. Lindemuth im Interview mit der Redaktion erklärt. „Aber es gibt auch noch die Parkinson-Demenz.“ Die mache sich im Alltag zunächst vor allem bei komplexen Aufgaben bemerkbar, z.B. beim Autofahren. Nicht selten spielen für die Vorstellung des Patienten in der Praxis auch Begleiterscheinungen wie Schlafstörungen, Depressionen, Angst oder aggressives Verhalten gegenüber Angehörigen oder Pflegern eine Rolle, weiß auch der Mediziner. „Diese Verhaltensstörungen entstehen oft, da die Betroffenen eine Situation nicht mehr richtig einschätzen können. In fortgeschrittenem Stadium der Erkrankung wollen sie auch weglaufen oder sie haben einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus“, erklärt er. Und das kann sehr belastend für die Angehörigen sein.

„Oft leiden die Angehörigen stärker als die Betroffenen“

„Oft leiden die Angehörigen stärker als die Betroffenen“, so Lindemuth. Gerade deswegen sei es enorm wichtig, dass Betroffene und ihre Angehörigen im Team arbeiten und sich Hilfe suchen. Und die gibt es im Kreis Siegen-Wittgenstein unter anderem von der Atempause Wittgenstein, der Alzheimer Gesellschaft Siegen-Wittgenstein, dem Caritasverband, dem Diakonischen Werk Wittgenstein und auch von vielen Tagespflegeeinrichtungen, in denen Betroffen ein bis zwei Tage die Woche betreut werden können. „So haben die Angehörigen Zeit zum Durchatmen. Gerade Frauen haben oft ein schlechtes Gewissen, haben das Gefühl, ihren Mann abzuschieben. Dabei tun sie das ja gar nicht. Es bringt nichts, wenn sie sich zu Beginn schon verausgaben und nach einem halben Jahr eine Erschöpfungsdepression haben“, so Dr. Lindemuth.