Feudingen. Ob dem Feudinger Verleger wirklich klar war, was er da 1934 veröffentlichte, weiß man nicht. Aber: Das Buch kritisierte den Nationalsozialismus.
Böllern ist in diesem Jahr zwar nicht möglich, aber einen Knaller rechtzeitig zu Silvester gibt es dennoch für Wittgenstein: Gleich zu Beginn des Nationalsozialismus regt sich im Dorf Feudingen gegen Adolf Hitler und seine Ideologie Widerstand. Herausgefunden hat dieses Stück unbekannter Dorfgeschichte der an der Leibniz-Universität Hannover lehrende Theologe Prof. Dr. Marco Hofheinz – selbst gebürtiger Feudinger.
„Was der Kollege Hofheinz, ein Feudinger Junge, nachweist, ist ein echter Silvesterknaller! Mit welcher Gelehrsamkeit und mit welchem detektivischen Scharfsinn Prof. Hofheinz seine literaturgeschichtliche Spurensuche vornimmt, ist nicht nur beeindruckend, sondern vor allem spannend! Viele Feudinger haben Prof. Hofheinz unterstützt und ihm bei der Recherche unterstützt. Mich hat diese Story wirklich vom Stuhl gehauen“, ist Dr. Ulf Lückel, Schriftleiter des Hefts „Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins e.V“, in dem der Bericht jetzt erschienen ist, begeistert.
Das besondere Buch
Hofheinz stützt seine These auf das Erscheinen eines Buches im Jahr 1934: „Calvin und das Recht“ von dem Wiener Theologen Josef Bohatecs (1876-1954). Dieses Buch, das als eine gelehrte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus zu verstehen ist, wurde in Feudingen vom Verlag „Buchdruckerei und Verlagsanstalt GmbH Feudingen in Westfalen“, (später: Mellmann & Co) herausgegeben.
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Das Besondere an dem Buch: Der Autor formuliert darin eine implizite Kritik an dem Bruch der Rechtsstaatlichkeit durch den Nationalsozialismus. Dass Literatur für die Nationalsozialisten eine Bedrohung darstellte, war bereits im Jahr zuvor deutlich geworden, als in zahlreichen deutschen Universitätsstädten tausende Bücher jüdischer oder politisch missliebiger Schriftsteller verbrannt wurden. Dennoch veröffentlichte der Feudinger Verlag ein Jahr später systemkritische Literatur.
Der historische Kontext
„Unmittelbar vor dem Erscheinen von Bohatecs Buch, dessen Vorwort auf den August 1934 datiert ist, ereignete sich die sogenannte Röhm-Krise. Sie stellte alle bisherigen Gewalttaten der ersten Regierungsmonate Hitlers in den Schatten“, schreibt Hofheinz dazu.
„Hitler ließ das Gerücht verbreiten, der SA-Stabschef Ernst Röhm habe einen Putsch der SA vorbereitet, und nutzte diesen eigens konstruierten Anlass dazu, Röhm und die Spitzenfunktionäre der SA sowie weitere politisch unliebsame Gegner umzubringen“, erklärt Hofheinz den historischen Kontext.
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„Das Jahr 1934 war – mit anderen Worten – dasjenige Jahr, in dem das NS-Regime durch die Ermordung der SA-Führungselite die rechtsstaatliche Fassade zunehmend fallen ließ und seinen Unrechtscharakter anhand dieses eklatanten Rechtsbruches öffentlich sichtbar machte. Zudem war Reichspräsident Hindenburg am 1. August, also exakt in dem Monat, in dem Bohatec sein Vorwort verfasst hatte, verstorben. Die Konzentration der politischen Macht allein in Hitlers Händen hatte damit ihre Vollendung gefunden.“
Der Autor des in Feudingen erschienen Buches, Josef Bohatec, greife eben jenen Umstand in seiner Schrift kritisch auf und entwerfe mit dem dargestellten Rechtsverständnis Calvins eine Art naturrechtsbasierten Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Unrechtsstaat.
Der Feudinger Verlag
Ob dem dem Feudinger Verlag und seinem Besitzer, dem Kaufmann Adolf Mellmann, bewusst gewesen ist, was genau er da eigentlich veröffentlichte, ist jedoch nicht bekannt.
Warum Bohatec, der zu den bedeutendsten reformierten Theologen und Calvin-Interpreten des 20. Jahrhunderts zählt, ausgerechnet den Feudinger Verlag für diese politisch brisante Publikation wählte, ist bis heute noch nicht ganz geklärt. Es ist bekannt, dass Bohatecs Frau als reiche Fabrikantentochter aus dem Siegerland stammt.
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Es sei naheliegend, dass der Wiener Autor Bohatec über sie Kontakte zum Feudinger Mellmann besaß, der damals als bedeutender „Billiganbieter“ in Südwestfalen galt.
Über Mellmanns eigene politische Haltung ist ebenfalls nur wenig gekannt. „Eine politische Widerstandszelle in Feudingen als Hintergrund der Publikation von Bohatecs zu vermuten, wäre rein spekulativ. Dafür gibt es keinerlei Anhalt“, so Lückel. Gleichwohl könne aber festgehalten werden, dass vom kleinen Dorf Feudingen aus nicht nur eine bis heute bedeutsame Calvin-Studie ausgegangen ist, sondern auch ein Dokument gelehrten Widerstandes gegen die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Faschismus, Führerprinzip und Nationalsozialismus.