Warstein. . Schulleiter Marcus Schiffer behandelte passend ein Tag vor der Reichpogromnacht die Geschehnisse vom 9. November 1938. Im Geschichtsunterricht der Klasse Zehn spannte er den Bogen von früheren Ereignisen bis hin zur heutigen Zeit.

„Man wird merken, dass heute was anders ist“, versichert mir Marcus Schiffer, als ich ihn am frühen Morgen in seinem Büro begrüße. Eine Stunde Geschichte an der Hauptschule Belecke steht auf meinem Stundenplan, in diesen Tagen ein ganz sensibles Fach. Zum 75. Mal jährt sich heute die Reichsprogromnacht. Für viele sicherlich noch ein Begriff oder zumindest in schwacher Erinnerung eben aus dem Geschichtsunterricht.

Ich möchte herausfinden, wie die Hauptschule mit dem Thema umgeht. Düster ist es, als ich den Raum der zehnten Klasse betrete, aber das Licht soll aus bleiben. Ich setze mich in den Stuhlkreis und warte ab, was passiert. Marcus Schiffer holt sein Handy heraus und spielt uns damit ein Gedicht vor. Ein Gedicht vorgetragen von einem Jungen, der über den Tod redet. Um ihn herum ist Geschrei und er wird beschimpft, während des Gedichts bleibt es jedoch ruhig.

Genau das Phänomen begegnet mir auch in der Schulklasse. Entgegen aller Vorurteile sitzen die Hauptschüler gebannt da und schauen ab und an betreten zu Boden, als die Hinführung zum Thema durch Erich Kästners „Unser Weihnachtsgeschenk“ immer mehr Betroffenheit verbreitet. „Ich verstehe nicht, warum die da alles kaputt gemacht haben“, sagt ein Schüler, während sich andere gar nicht erst äußern mögen. Zielsicher setzt Marcus Schiffer bei den Jugendlichen an, um ihnen die Grausamkeiten der Reichspogromnacht näher zu bringen.

Er beschreibt, wie Menschen mit Schildern um den Hals tierähnlich durch die Stadt getrieben werden, wie Glasscheiben zersplittern, wie Deutschland kläglich versuchte, das jüdische Volk auszurotten, um dem Ziel, in einem reinrassigen Staat zu leben, immer näher zu kommen. „Ich möchte die Schüler nicht überfrachten und keine Namen nennen“, erklärt mir Marcus Schiffer während einer Gruppenarbeit. „Ich will, dass sie durch den Bezug zur Gegenwart selbst darauf kommen, was damals passiert ist.“ Und die Strategie geht auf: Sofort stellen die Schüler den Vergleich zu Mobbing her. Sie stellen fest, dass eine Minderheit betroffen ist, die eine andere Herkunft und eine eine andere Religion besitzt und dafür an den Pranger gestellt wird.

Als das Stichwort „Mitläufer“ in den Raum geworfen wird, meldet sich ein Schüler und erklärt: „Ich glaube, dass Mitläufer die Schlimmsten sind, weil sie das einfach nur ausüben.“ Ein Mädchen entgegnet darauf: „Man sollte den Mitläufern die Frage stellen, warum sie so etwas tun.“ Für diese Antwort erntet sie sogar Applaus. Ich bin beeindruckt von der Atmosphäre in der Klasse, von der Sensibilität der Schüler und von dem gelungenen Spagat zwischen Realität und Vergangenheit.

Das bleibt im Kopf

Für die nächste Stunde wird eine Präsentation zum Thema vorbereitet, wo einzelne Gruppen die Ursache von Mobbing, die Erklärung der Reichspogromnacht und über Lügen und Vorurteile reden werden.

Meine Schulstunde ist jedenfalls beendet und ich bin mir sicher, dass ich das Datum jetzt im Kopf behalte.