Werl/Düsseldorf. . Ende einer Flucht: Der verurteilte Mörder aus Werl, der in Hamburg erneut zwei Menschen niedergestochen und beraubt haben soll, hat sich am Mittwochabend der Polizei gestellt. Zuvor hatte NRW-Justizminister Kutschaty den Freigang für den Häftling verteidigt.

Der Mörder, der aus dem Gefängnis im westfälischen Werl entkommen ist, hat sich am Mittwochabend in Lübeck gestellt. Nach bisherigen Erkenntnissen erschien der Mann mit einem Anwalt an einer Polizeistation, teilte die Polizei in Hamburg am späten Abend mit.

In Hamburg soll er am Samstag eine 56-Jährige in ihrem Café brutal niedergestochen und lebensgefährlich verletzt haben. Nach Angaben des NRW-Justizministeriums in Düsseldorf war der verurteilte Mörder am 20. Februar von einem genehmigten, unbegleiteten Ausgang nicht in die JVA in Werl zurückgekehrt.

Kutschaty verteidigte Haftlockerungen

NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) hatte noch am Mittwoch die offenbar folgenschweren Haftlockerungen für einen verurteilten Mörder aus der Justizvollzugsanstalt Werl vor dem Landtag verteidigt.

Justizminister Thomas Kutschaty verteidigte den Hafturlaub des geflüchteten Mörders. Foto: dapd
Justizminister Thomas Kutschaty verteidigte den Hafturlaub des geflüchteten Mörders. Foto: dapd

Zwei Gutachter hätten die Gewöhnung an die Freiheit nach 20 Jahren Haft empfohlen. Der 42-Jährige war am 20. Februar von einem unbegleiteten Hafturlaub nicht zurückgekehrt. „Wir können die Rückfallquote reduzieren. Ausschließen können wir sie nicht“, sagte Kutschaty. Die Opposition bezweifelt, dass der Hafturlaub hätte genehmigt werden dürfen.

Der Opferschutz-Verein Weißer Ring kritisierte: „Fehlerhafte Prognosen über die Gefährlichkeit von Straftätern kommen immer wieder vor.“ Resozialisierung habe zu oft Vorfahrt vor Opferschutz.

Gutachterin stellte fest: "Gewaltdelikte nicht zu erwarten"

„Gewaltdelikte gegen Personen nicht zu erwarten.“ Diese günstige Prognose stellte eine Gutachterin am 31. Oktober 2012, nachdem sie den verurteilten Mörder untersucht hatte. Eine dramatische Fehleinschätzung? Vieles deutet darauf hin. Fast 20 seiner 42 Lebensjahre musste der Mann im Gefängnis verbringen, weil er 1992 mit einem Komplizen eine Taxifahrerin in Wuppertal ausgeraubt und ertränkt hatte. Zuletzt saß der gelernte Koch in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Werl.

Schon beim ersten Ausgang wurde er auffällig 

Für die Landtagsabgeordneten Jens Kamieth (CDU) und Dirk Wedel (FDP) wirft der Fall zahlreiche Fragen“ auf. Offenbar ist der Häftling trotz seiner langen Gefängnisstrafe bis heute schwer drogenabhängig. Nach einem ersten unbegleiteten Ausgang aus der Werler JVA Mitte Dezember 2012 wurde ihm erneuter Drogenkonsum nachgewiesen.

Zudem war er verspätet in die Anstalt zurückgekehrt. Da sich der Häftling jedoch wie vorgeschrieben bei einem Verein zur Integration Haftentlassener in Münster gemeldet habe und der Drogenkonsum später durch die Suchtberatung „aufgearbeitet“ wor­den sei, bezeichnete Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) den Ausflug als „Aufenthalt ohne Beanstandungen“. Die Verspätung habe der Häftling ja telefonisch der Anstaltsleitung angekündigt und damit erklärt, dass er in Hamm in den falschen Zug gestiegen sei. Auf eigene Kosten habe er ein Taxi nach Werl genommen.

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Für die Opposition dagegen bleibt rätselhaft, wie ein verurteilter Mörder, der bei seinem ersten unbegleiteten Ausgang gleich wieder Drogen nimmt und sich nicht an die Regeln hält, acht Wochen später erneut mit Haftlockerungen belohnt werden konnte.

Kutschaty verwies darauf, dass ein Restrisiko „trotz aller sorgfältiger Prüfung nicht vollständig ausgeschlossen werden kann“. Zwei Gutachten hätten empfohlen, den 42-Jährigen allmählich wieder an die Freiheit zu gewöhnen. Allerdings hatten die Experten auch auf die Drogenproblematik hingewiesen. Bei seiner Verurteilung 1993 wegen Mordes war nicht die besondere Schwere der Schuld festgestellt worden, so dass sich rechtlich schon nach 15 Jahren Freiheitsstrafe die Frage der „bedingten Entlassung“ gestellt habe.

„Wir können die Rückfallquote reduzieren. Ausschließen können wir sie nicht“, sagte Kutschaty. In NRW seien allein im Jahr 2011 über 88.000 Entscheidungen über Haftlockerungen getroffen worden. „Dabei lag die Versagensquote bei gerade einmal 0,2 Prozent“, so der Minister. Diese theoretische Diskussion ärgerte den CDU-Landtagsabgeordneten Christian Möbius: „Erzählen Sie das mal den Angehörigen der niedergestochenen Menschen in Hamburg.“

Das Ministerium prüft nun, ob die JVA Werl bei ihren Lockerungsentscheidungen Fehler gemacht hat. Gerüchte, es habe Warnungen von JVA-Bediensteten gegeben, wies Kutschaty zurück. Darüber sei ihm nichts bekannt.

Geht in Deutschland Resozialisierung vor Opferschutz? 

Selbst Täter, die zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt wurden, müssen in Deutschland eine Chance auf ein Leben in Freiheit behalten und darauf vorbereitet werden. So hat das Bundesverfassungsgericht schon 1997 geurteilt und Vollzugslockerungen angemahnt.

Wenn der Richter nicht die besondere Schwere der Schuld feststellt, muss nach 15 Jahren Freiheitsstrafe eine Entlassung unter Auflagen zumindest geprüft werden. Die Wissenschaft hält das statistische Risiko, Opfer eines Gefangenen während Haftlockerung zu werden, für geringer als jenes, das von der männlichen Durchschnittsbevölkerung ausgeht.

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Der „Weiße Ring“ sieht in der Verpflichtung zu Lockerungen ein Problem. „Es darf nicht sein, dass die Sicherheit der Bevölkerung dadurch gefährdet wird“, sagte Veit Schiemann, der Sprecher dieses Opferschutz-Vereins. Beim geringsten Zweifel müsse auf Lockerungen im Vollzug verzichtet werden. „Eine Alternative zum unbewachten Ausgang ist zum Beispiel der bewachte“, sagte Schiemann. Allzu oft seien Gutachten über die Gefährlichkeit von Gefangenen fehlerhaft, und allzu oft gehe die Justiz leichtfertig mit dem Ziel der Resozialisierung um, meint der Weiße Ring.

Noch etwas bemängeln die Opferschützer: Es gebe zwar Regeln für die Auswahl von Gutachtern, aber es gebe keine einheitlichen Vorgaben dafür, wie Gutachten geschrieben werden müssen. Dadurch komme es zu Unterschieden bei der Beurteilung von Straftätern.