Warstein. . Dürrenmatts Theorie saust mir durch den Kopf, als Heinrich Häckel von jenem Wintertag 1965 erzählt, der sein Leben völlig aus den Bahnen warf. Dürrenmatt sagt: „Je mehr der Mensch plant, desto härter trifft ihn der Zufall.“
Manche mögen es auch Schicksal nennen. Oder Fügung. Oder beides. Häckel nennt es Unfall. Ich habe Dürrenmatts Physiker so häufig verschlungen wie kein anderes Buch. Zu sehr fasziniert mich der Gedanke, dass bei aller Planung und Detailverliebtheit immer die unberechenbarste aller Variablen die Zukunft bestimmt: der Zufall. Der Spaziergang mit Heinrich Häckel füllte diese Theorie mit Leben.
Man muss keine Angst um das Wetter haben, wenn man sich mit einem Wanderer trifft. Alles ist dann wichtig, nur nicht, ob es regnet oder schneit. „Wir haben trotzdem gewaltiges Glück“, begrüßt mich Heinrich Häckel. Glück, Zufall, Fügung? Wir werden in den nächsten zwei Stunden noch öfter auf diese Begriffe zu sprechen kommen. Denn was Häckel im Alter von 23 Jahren zustieß, veränderte sein Leben für immer.
Kaiser-Wetter auf dem Stimm Stamm
Auf dem Stimm Stamm herrscht heute Kaiser-Wetter. Die Sonne strahlt durch die Äste der noch kahlen Bäume direkt ins Gemüt. Das Auge ermüdet bei der visuellen Jagd nach winterlich-romantischen Motiven. Häckel und ich müssen beide ordentlich die Teller leer gegessen haben.
Häckel trägt einen roten Schal. Kein Bordeaux, kein Orange. Genossen-Rot. „Ich habe mir gedacht, dass ich ruhig mal Farbe bekennen kann“, schmunzelt Häckel. Es ist noch viel übrig von jener Mentalität, die ihn als Arbeitnehmer-Kämpfer im Betriebsrat der Vereinigten Elektrizitätswerke Westfalen (VEW) ausgemacht hat. Eine klare Linie. Eine direkte Ansprache. Eine „offene Schnauze“, wie er sagt. Immer dann, wenn sie gefragt war. Immer dann, wenn man Kante zeigen musste. Wenn es drauf ankam.
Das Leben ist zurück auf dem Stimm Stamm. Eine junge Familie kommt uns entgegen. Papa zieht das Töchterchen auf dem Schlitten. Wenige Meter weiter läuft eine Dame, die Häckel erkennt und freundlich grüßt. Vögel zwitschern. „Es ist herrlich draußen in der Natur“, sagt Häckel, „ich sage auch den Kindern immer, dass sie mit offenen Augen durch die Natur gehen sollen.“ Er verändert kurz den Rhythmus seiner Schritte, um die deutlichen Spuren eines Hirsches auf dem Weg nicht zu verwischen. Und er korrigiert mich noch eben: „Ein Reh kann das niemals gewesen sein.“ Sein Okular hat sich längst zu einer Sonnenbrille verwandelt.
69 Jahre ist Häckel (noch) alt. Am 23. April wird er 70. Fünf Tage später wird er groß feiern. Dann wird die Geschichte, die er mir an diesem kristallklaren Wintermorgen erzählt, an einigen Tischen bestimmt noch einmal Gesprächsthema sein.
Drehbuch des Lebens von Heinrich Häckel
Denn das Drehbuch seines Lebens hatte ihn eigentlich nicht als Sprachrohr der VEW-Belegschaft, als späteren Referenten des Arbeitsdirektors, als Aufsichtsratsmitglied und vielleicht auch nicht als passionierten Wanderer und AWO-Vorsitzenden vorgesehen. „Eigentlich wollte ich Schreiner werden“, sagt Häckel, „ich habe handwerkliches Geschick.“
Er wurde zunächst auch Schreiner und arbeitete nach der Ausbildung in einem Betrieb in Hirschberg. Bis zu dem Tag als Dürrenmatts Theorem sein Leben aus dem Takt brachte. Ein Unfall riss ihn 1965 von einem Dach. Die Diagnose: Querschnittslähmung. „Da war ich 23 Jahre alt“, sagt Häckel.
Vorübergehende Querschnittslähmung
Einen Begriff wie Schicksal nimmt er nicht in den Mund. Mit „Fügung“ könnte er aber leben. Denn als nach fünf Wochen wie durch ein Wunder Empfindungen aus seinen Zehen die Beine hinaufkrochen, bekam er seine zweite Chance. „Und die habe ich wirklich genutzt.“ Häckel sagt das mit Stolz. Und Vertrauen in sich selbst. Wohlwissend, dass eine Karriere wie seine heute kaum mehr möglich wäre.
Der Unfall und die vorübergehende Querschnittslähmung waren ein Wendepunkt in Häckels Leben. Und Grund dafür, warum er heute leidenschaftlich gern wandert. „Ich bin dankbar darüber, dass ich laufen kann.“
Als er wieder laufen konnte, war er trotzdem unfähig, den Schreiner-Job weiter auszuüben. Deshalb bewarb er sich als Lagerhelfer bei den VEW. Eigentlich wollte er nur Zähler ablesen. An der Fernschule machte er Abendkurse, legte eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann hinterher.
Als die Mauer fiel ging Häckel in den Osten
„Ich war immer schon der SPD zugeneigt. Und deshalb ging ich auch in die Gewerkschaft.“ Er wurde Vertrauensmann der Warsteiner VEW-Betriebsstelle, wurde 1981 in den Betriebsrat gewählt und bekam 1984 als erster Nicht-Dortmunder ein Stipendium an der dortigen Sozialakademie. „Ich saß als 40-Jähriger zwischen lauter jungen Bengeln. Ich war der Einzige der Ahnung hatte, wie Arbeit funktioniert und was ein Betriebsrat ist.“
Als die Mauer fiel ging er in den Osten und baute in Frankfurt (Oder) die ÖTV mit auf, organisierte Betriebsratswahlen in einem Joint-Venture in Halle, genau wie in Quedlinburg. „Dafür hat man mir das Bundesverdienstkreuz verliehen.“ Häckel hat immer aufopferungsvoll für die Rechte von Arbeitnehmern gekämpft.
Häckel wurde vom Schreiner zum Aufsichtsratsvorsitzenden. Solche Geschichten sollen eigentlich nur in Amerika möglich sein. Für ihn blieb die Heimat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Den Dienst quittierte er erst, als er nach all den Jahren nicht mehr die absolute Mehrheit der Kollegen hinter sich hatte. „Ich habe immer gesagt: wenn dieser Moment kommt, gehe ich.“ Er kam. Und der noch immer sehr geschätzte Betriebsrat machte Platz für einen Jüngeren.
Talk am Turm ist Heimspiel für Heinrich Häckel
Wir marschieren. Der Talk am Turm ist praktisch Häckels Heimspiel. Der Weg gehört mit zur SGV-Wanderroute. Viele Schilder und Beschriftungen am Wegesrand sind sein Werk. „Hier, diese Flur wird Holländer Holz genannt. Die Niederländer brauchten früher für ihre Seefahrt und den Bau von Schiffen Holz aus dem Sauerland. Die Warsteiner haben es ihnen geliefert.“
Bevor es später schräg links zum Turm geht, weist noch einmal ein Schild auf die „Allee der Bäume“ hin. Häckels Idee, umgesetzt mit Revierförster Henning Dictus. Die Allee führt zur Kapelle hinunter, die, na logisch, Heinrich Häckel mitgezimmert hat.
Wir rasten einen Moment, fluten den Körper mit klarster Luft. Während Häckel das Taschentuch wieder zusammenfaltet, kommt uns ein Ehepaar entgegen. „Ach die Oberstadts“, ruft Häckel.
Kurze Vorstellungsrunde. Den Oberstadts gehörte früher an der Warsteiner Hauptstraße eine Konditorei. „Eine alte Warsteiner Familie“, sagt Häckel.
Zeit für ein Gespräch über die AWO
Sie haben viel gelesen in den letzten Tagen über den „Heinrich“. „Häckel: Ende einer AWO-Ära“ war eine von vielen Schlagzeilen. „Tritt mal schön kürzer“, rät Frau Oberstadt. Häckel entgegnet: „Wisst ihr, meine Frau hat in all den Jahren viel auf mich verzichten müssen. Jetzt nehme ich mir die Zeit.“ Er zieht die Handschuhe noch einmal etwas fester über die Hände, schiebt die Brille hoch und sagt voller Aufbruchstimmung: „Bevor es zu spät ist.“
Die letzten 400 Meter bis zum Turm. Zeit für ein Gespräch über die AWO. Wie war dieser organisatorische Aufwand neben dem beruflichen Alltag noch möglich? „Das hat auch etwas mit Überzeugung zu tun.“ Die AWO sei dem sozialen und von Solidarität geprägten Arbeitsleitbild der VEW immer sehr nahe gewesen.
1983 tritt Häckel in den Ortsverein Warstein ein, wurde direkt Vorstandsmitglied, später erster Vorsitzender. „Ich bin so froh, dass wir die Führung nun an einen jungen Vorstand weitergeben konnten“, sagt er, „mit Hanna Tacke ist sogar eine 20-Jährige dabei, die jetzt ganz gezielt die jungen Menschen ansprechen will.“ Montags werden er und Ehefrau Ellen noch die Betreuung der Senioren übernehmen. „Das kann kein Berufstätiger.“
204 Stufen zum Aussichtsplateau
Viele Berufstätige können wahrscheinlich auch nicht die 204 Stufen zum Aussichtsplateau des Lörmecketurms erklimmen. Häckel schon. Hier oben im eisigen Zugwind und bei traumhafter Aussicht kommen wir auf das Thema Alter zu sprechen.
„Ich habe es schon im Gespräch mit Herrn Bövingloh erwähnt, dass ich in einer Neuen Mitte in Warstein Seniorenwohnungen für sinnvoll halten würde. Unten die Ankermieter, oben betreutes Wohnen, das wäre was“, sagt Häckel. Auch eine eigene Stelle für die AWO kann er sich dort vorstellen. „Aber das wollte der Investor nicht. Wir haben ihm sogar angeboten, selbst zu bauen.“
Wenn er und Ehefrau Ellen eines Tages vielleicht nicht mehr die Kraft zum Rasenmähen, zum Heckeschneiden oder zum Treppensteigen haben, dann könnte Häckel sich das für sich selbst auch vorstellen.
Häckel trägt das Bundesverdienstkreuz
Aus Möglichkeiten hat Heinrich Häckel in seinem Leben immer Tore gemacht. Er wurde vom Schreiner zum Aufsichtsratsmitglied der VEW, zum Träger des Bundesverdienstkreuzes. So manches Mal dürfte ihm das ungewöhnliche Drehbuch seines Lebens vor dem inneren Auge vorbeirauschen. Vielleicht in seiner ruhigen Mittagsstunde. Nur er und sein Hund im Entspannungsraum im Keller der Häckels. Ein Sofa für ihn. Eins für den Hund. Frauenverbot.
Die letzte Frage zurück am Parkplatz: „Wollen Sie die Geschichte vorher lesen?“ Wer Häckel kennt, kann die Antwort erahnen. Er hält es, wie das Leben es mit ihm gehalten hat. Er lässt sich überraschen.
Darin steckt ein Stück Häckel. Und eines von Dürrenmatt. Denn je mehr man eben plant, desto härter trifft einen der Zufall.