München/Siegen. . Am Dienstag verhandelte das Oberlandesgericht München zum letzten Mal vor der Sommerpause gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer der Neonazi-Terrorgruppe NSU. Es war der 32. Verhandlungstag. Mehmet Gürcan Daimagüler, gebürtiger Siegener, war als Opferanwalt beim NSU-Prozess dabei. Ein Interview.
Nach dem 32. Verhandlungstag geht der NSU- Prozess vor dem Oberlandesgericht München in eine vierwöchige Sommerpause. Rechtsanwalt Mehmet Gürcan Daimagüler, gebürtiger Siegener, vertritt zwei Opfer- Familien aus Nürnberg als Nebenkläger. Wir sprachen mit dem Opferanwalt
Wie sieht Ihre Zwischenbilanz aus?
Nach einem holprigen Start hat der NSU-Prozess deutlich an Fahrt aufgenommen. Unter den gegebenen Umständen (Terminierungs-Wirrwarr, viele Verfahrensbeteiligte, komplexer Tatbestand) kommen wir gut voran. Dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl und dem Senat insgesamt gebührt ein großes Lob.
Ergibt sich für Sie schon ein schlüssiges Bild der NSU-Mordserie?
Das große Puzzle ist noch nicht fertig, aber die Stücke fügen sich mehr und mehr zusammen. So ist die Rolle der Hauptangeklagten Beate Zschäpe durch die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen klarer geworden: Die Anklage - die Mittäterschaft bei Morden - ist richtig. Sie hat eine gleichberechtigte Rolle gespielt. Und in Bezug auf den mitangeklagten Ralf Wohlleben kristallisiert sich immer mehr heraus, dass er tagsüber als Parteifunktionär (NPD) tätig war und nachts ein mutmaßliches Mordtrio unterstützte.
Wie erleben die Opfer-Familien, die Sie vertreten, die bisherigen Sitzungstage?
Mir war es wichtig, meine Mandanten realistisch auf den Prozess vorzubereiten, ihnen zu sagen, dass sie nicht davon ausgehen dürfen, dass alles aufgedeckt wird. Ich habe großen Respekt vor meinen Mandanten: Sie rufen trotz ihrer Schmerzen nicht nach Rache, Vergeltung oder Strafe. Sie fragen nach dem „Warum?“: Wie kann ein Mensch einem anderen nur so etwas antun?
Bilder zum NSU-Prozess
Wird den Opfern genügend Zeit eingeräumt?
Ja. Die Nebenklage ist sehr agil. Wiewohl ich feststellen muss, dass wir uns in einem Zielkonflikt mit der Generalbundesanwaltschaft befinden. Für die Ankläger ist die Frage nach Schuld und Unschuld entscheidend. Die Nebenklage aber möchte wissen, ob und welche Rolle einzelne Verfassungsschutz-Mitarbeiter bei den NSU-Aktivitäten spielten; warum das Leben der Opferfamilien mit falschen Verdächtigungen auf den Kopf gestellt wurde; warum Menschen erst das Leben und dann die Ehre genommen wurde; und nicht zu vergessen, welches Weltbild in manchen Ermittler-Köpfen geherrscht hat. Solche Fragen gehören auch in den Gerichtssaal.
Journalisten haben im NSU-Prozess ein hohes Maß an Verantwortung gezeigt
Ist das Interesse der Öffentlichkeit am NSU-Prozess nach wie vor groß?
Ein klares Ja sowohl für die allgemeine Öffentlichkeit, als auch für die mediale. An den bisherigen Sitzungstagen ist kein Presseplatz frei geblieben. Überhaupt kann ich die sachliche Berichterstattung - auch der ausländischen Medien - nur loben. Die Journalisten haben ein hohes Maß an Verantwortung gezeigt.
Und wie sieht es auf den Besucherplätzen aus?
Auch diese sind immer besetzt. Mich macht glücklich, dass viele junge Leute (insbesondere Schüler) den Prozess verfolgen und sehen, dass der Rechtsstaat in der Lage ist, mit Herausforderungen fertig zu werden. Und das alles unter Berücksichtigung aller Rechte der Angeklagten. Das unterscheidet uns Demokraten von den Gesinnungsfreunden der Angeklagten. Ich habe nichts dagegen, dass Neonazis auf der Tribüne sitzen. Sie sollen ruhig sehen, dass der Rechtsstaat nicht kuscht und seine Arbeit macht.
Wie erleben Sie persönlich die Verhandlungstage in München?
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Der Gerichtssaal wirkt auf Fotos größer, als er ist. Die Atmosphäre ist sehr dicht. Beate Zschäpe sitzt mir vielleicht zwei Meter gegenüber. Mir gehen die in in den Akten enthaltenen Kinderfotos der NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos nicht aus dem Kopf. Darauf albern sie mit ihren Müttern herum, haben ganz liebe Gesichter. Auf Bildern, die einige Jahre später gemacht wurden, tragen sie Bomberjacken, sind kahlgeschoren und haben hasserfüllte Gesichter. Ich möchte verstehen, wieso aus unschuldigen Kindern mutmaßliche Mörder werden konnten. Mich treibt die Frage um, warum sie so geworden sind. Der Prozess ist für mich anstrengend und emotional - aber kein Vergleich zu den Empfindungen der Angehörigen.