München/Berlin/Siegen. . Der gebürtige Siegener Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler vertritt in dem am 6. Mai beginnenden NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München zwei Opfer-Familien als Nebenkläger. Der Rechtsanwalt spricht über die Wünsche der Angehörigen.

„Die Opfer der NSU-Mordserie durften nicht Opfer sein. Auch diese Erkenntnis bedrückt die Angehörigen bis heute“, sagt Rechtsanwalt Dr. Mehmet Gürcan Daimagüler. Der gebürtige Siegener vertritt im Prozess gegen das mutmaßliche NSU-Mitglied Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Helfer vor dem Münchner Oberlandesgericht zwei Opfer-Familien als Nebenkläger.

„Die Angehörigen der Opfer sind doppelt bestraft“, sagt der deutsche Jurist mit türkischen Wurzeln, der in einer angesehenen Berliner Kanzlei tätig ist. „Sie haben nicht nur einen geliebten Menschen verloren, sie mussten auch lange Zeit mit falschen Verdächtigungen leben.“ Ein Gefühl der Ohnmacht. Bis heute. „Die Opfer-Familien fühlen sich allein gelassen.“

Die Wünsche der Angehörigen

Zehn Morde sollen auf das Konto der Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) gehen. In den vergangenen Wochen scheint die Auseinandersetzung mit der Gruppe geprägt zu sein von Sitzordnungen im Gericht oder vom Versagen der Sicherheitsbehörden. Wurde dabei der Blick auf die Opfer und deren Familien vernachlässigt?

Daimagüler vertritt Angehörige von Opfern, die in Nürnberg getötet wurden. Der 45-Jährige will die jetzigen Wohnorte seiner Mandanten nicht nennen. Aber er will ihre Wünsche („Der Begriff Erwartungen ist falsch!“) für die juristische Aufarbeitung benennen: Nämlich dass vor Gericht die Hintergründe aufgeklärt werden. Die Rolle von Hintermännern, Helfern, Verfassungsschutzbehörden und von 20 V-Leuten im Umfeld der Terrorzelle. Die Familien hofften, dass alle Fragen beantwortet werden, sagt Daimagüler. „Ihr Vertrauen in die Justiz und in den Rechtsstaat ist angeknackst, aber nicht zerstört.“

Die Justiz hat es ihnen zuletzt nicht leicht gemacht. Den Angehörigen wurde Transparenz bei der Aufklärung des rechten Terrors versprochen. „Die Posse um die Zulassung türkischer Journalisten haben sie mit fassungslosem Entsetzen aufgenommen.“ Nicht zu vergessen der Vorwurf, dass die Ermittler auf dem rechten Auge blind waren. „Ich muss leider davon ausgehen, dass die Herkunft der Opfer Auswirkungen auf die Ermittlungen hatte“, sagt Mehmet Gürcan Daimagüler.

Er zitiert aus einer operativen Fallanalyse des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg aus dem Jahr 2007, Seite 163: „Vor dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, ist abzuleiten, dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.“

Nicht sofort zugesagt

Als der deutsche Staatsbürger Daimagüler gefragt wurde, ob er das Mandat für die beiden Opferfamilien übernehmen könne, hat er nicht sofort zugesagt. Daimagüler hält einen Moment inne. „Ich habe mich gefragt, ob ich die nötige berufliche Distanz habe, da ich selbst türkisch-stämmig bin.“ Nach einiger Zeit des Nachdenkens hat er zugesagt, auch wenn er nicht abschätzen kann, ob „diese Aufgabe gut für mich ist“. Der Anwalt, der an der Universität Witten-Herdecke promovierte, hat sich auf Vertrags- und Insolvenzrecht, Unternehmens- und Politikberatung spezialisiert. Strafrecht ist eher selten sein Thema. Eine bewusste Wahl: „Es ist bedrückend, wenn man in menschliche Abgründe tauchen muss. Wenn man sieht, mit welcher Kaltblütigkeit die Taten ausgeführt wurden.“

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Ab dem 6. Mai wird Daimagüler dreimal in der Woche in Saal 101 des Oberlandesgerichts München sitzen. Gut möglich, dass der Prozess über drei Jahre geht. Ein Mammutprogramm auch für einen, der genau weiß, was es bedeutet, in der Öffentlichkeit zu stehen. Mehmet Gürcan Daimagüler war der erste Türkischstämmige, der in den Bundesvorstand einer deutschen Partei gewählt wurde. 2007 verließ er die FDP, beendete seine politische Laufbahn.

Kraft für das Mammutprogramm in München tankt Daimagüler nach eigenem Bekunden in seiner südwestfälischen Heimat. Alle paar Wochen ist er im Siegener Stadtteil Niederschelden. „Das Siegerland ist mein Zuhause, dort lebt meine Familie.“

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Nicht nur dort erhält er viel Zuspruch für seine Tätigkeit im NSU-Prozess. „Uns Siegerländern sagt man ja eine gewisse Sturheit und Dickköpfigkeit nach. Vielleicht hilft mir das, um in München mit der nötigen Hartnäckigkeit der Wahrheit auf die Spur zu kommen.“

Ein Zeichen der Solidarität

Wäre der NSU-Prozess wie geplant am 17. April gestartet, hätte Daimagüler die erste Woche im Exerzitienhaus des Erzbistums München und Freiburg übernachtet. Das Erzbistum stellt den Angehörigen der Opfer Übernachtungsmöglichkeiten. Den Anwalt hat dieses „tolle Zeichen der Solidarität sehr gerührt“, wie er sagt. Ein Zeichen der Solidarität, das er rund um den braunen Terror der NSU vom Staat, von seinem Staat, vermisst hat? Mehmet Gürcan Daimagüler muss nicht lange nachdenken. „Ich glaube nicht, dass dieses Land schlecht ist“, sagt er. „Aber die Demokratie und der Rechtsstaat sind verletzlich.“