Siegen/München. . 87 Verhandlungstage bis Januar 2014 sind vorerst angesetzt. Doch Mehmet Gürcan Daimagüler, Rechtsanwalt aus Siegen, rechnet damit, dass der Prozess gegen die fünf Angeklagten aus dem Umfeld der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) beim Oberlandesgericht München 200 Tage dauern kann.

Für den aus Siegen stammenden, von Berlin aus bundesweit praktizierenden Rechtsanwalt bedeutet dies mindestens in den nächsten beiden Jahren regelmäßige Anwesenheit in der 600 Kilometer entfernten bayerischen Landeshauptstadt. Dort vertritt Daimagüler als Nebenkläger die Familien von zwei Mordopfern der Neonazis, die zwischen 1998 und 2006 in ganz Deutschland zehn Menschen umbrachten. Darüber hinaus werden Beate Zschäpe und ihren Mitangeklagten zahlreiche Banküberfälle, Brandstiftung und Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen.

Allein 500 Seiten umfasst die Anklageschrift, die Daimagüler ebenso wie die anderen rund 50 Nebenkläger erhalten hat – zusätzlich zu rund tausend Aktenordnern, die den Anwälten elektronisch übermittelt wurden, viele davon mit einigen hundert Seiten Ausführungen. Der Berliner Jurist kann diese Masse an Dokumenten nur bewältigen, weil er eigens dafür eine studentische Hilfskraft eingestellt hat.

Schon im Vorfeld des Prozesses kritisiert Daimagüler den auffälligen Widerspruch zwischen dem Versprechen an die Opfer, ihnen Hilfe bei Aufklärung der Verbrechen zu leisten, und der Praxis: „Die Anwälte werden allein gelassen.“

Dr. Mehmet Daimagüler als Pflichtanwalt im NSU-Prozess eingesetzt

Mehmet Daimagüler wurde als Pflichtanwalt vom Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs eingesetzt. Als Nebenkläger kommt ihm und seinen Kolleginnen und Kollegen an der Seite der Familien eine ähnliche Rolle zu wie den Staatsanwälten, das heißt, auch Nebenklägeranwälte sind befugt, eigene Anträge zu stellen.

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Den NSU-Prozess in seiner Bedeutung zur Aufklärung einer beispiellosen Verbrechensserie sieht Mehmet Daimagüler in einer Reihe mit den Nürnberger Prozessen, den Auschwitzprozessen, den Prozessen gegen die Rote Armee Fraktion oder unlängst gegen den KZ-Aufseher Demjanjuk. Was der Berliner Anwalt vermisst, ist allerdings eine stärkere Beschäftigung mit dem Umfeld der Terroristen, die nach seiner Auffassung nur mit Hilfe örtlicher Unterstützer ihre Mordserie begehen konnten. Netzwerke von Gleichgesinnten gebe es deutschlandweit.

„Woher wollen Täter aus Thüringen sich so gut auskennen, dass sie wissen, in welcher Kölner Straße viele Türken leben?“, fragt sich Mehmet Daimagüler. Zielgerichtet gingen sie 2004 in der Keupstraße vor und legten eine Nagelbombe, die über 40 Menschen zum Teil schwer verletzte. Auch wo sich die Schneiderei in Nürnberg befindet, wo ein weiteres Opfer ermordet wurde, dürfte den Tätern ohne Helfer vor Ort nicht geläufig gewesen sein.

Dr. Mehmet Daimagüler war im NSU-Untersuchungsausschuss anwesend 

Dabei seien schon 1998 Listen mit den Telefonnummern von bekannten Nazis und V-Leuten des Verfassungsschutzes bei Uwe Böhnhardt gefunden worden – einem der Täter, die sich 2011 nach einem missglückten Banküberfall umbrachten. Niemand habe sich die Mühe gemacht, diese Liste zu überprüfen. Für Mehmet Daimagüler ist daher klar: „Wir wissen nicht ansatzweise alles.“ Das Vertrauen in die Ermittlungsbehörden sei schon im Vorfeld erschüttert, wie es auch im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags deutlich wurde, bei dem Daimagüler mehrfach zugegen gewesen ist.

Doch es gibt auch positive Aspekte vor Start des Mammutprozesses in München. Mehmet Daimagüler lobt das katholische Erzbistum München, das den Angehörigen der Opfer aus ganz Deutschland eine kirchliche Einrichtung für die Übernachtungen zur Verfügung stellt und weitere 20.000 Euro für die Fahrtkosten: „Ein tolles Zeichen der Solidarität.“

Der rechte Terror der NSUDagegen teilt der Anwalt doch die Auffassung, dass es einige Probleme für die interessierte Öffentlichkeit bei der beabsichtigten Teilnahme an der Verhandlung im Landgerichtsgebäude München gibt. Dort ist nur eine begrenzte Zahl von Zuschauern erlaubt. Beispielhaft sei in Oslo beim Breivik-Prozess gehandelt worden, sagt Daimagüler: Dort stand ein Saal für 800 Menschen zur Verfügung. Schulklassen, die den NSU-Prozess verfolgen wollen, müssten dagegen „auf eigenes Risiko“ anreisen.