Siegen/Müsen. Getötet habe er den Vater nicht: Vor Landgericht Siegen erhebt Angeklagter neue Vorwürfe gegen seine Familie. Die Zeugen sagen etwas ganz anderes
„An allen diesen Dingen bin ich nicht schuld“, sagt der Angeklagte. Der Mann, der sich vor Gericht verantworten muss, weil er im August 2023 seinen 71-jährigen Vater nach einem Streit mit 16 Messerstichen getötet haben soll, möchte seine Aussagen vom ersten Verhandlungstag präzisieren, teils zurücknehmen. In einer langen, tränenerstickten Einlassung am Montag, 4. März, legt er die aus seiner Sicht schwere Kindheit dar. Auch die Tötung seines Vaters bestreitet er nun, nachdem er sich beim Prozessauftakt noch nicht konkret erinnern konnte: Er habe zugestochen, ja - aber nur zwei Mal, seitlich in den Bauch. „Die 14 weiteren Messerstiche können nicht von mir sein. Niemals, ich habe das nicht getan!“
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Die psychische Gesundheit des Angeklagten ist auch Gegenstand des Verfahrens. War die Staatsanwaltschaft zunächst noch von einer zur Tatzeit verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen, wurden daran bereits vor Prozesseröffnung Zweifel laut. Zeugen, auch die eigene Familie des Beschuldigten, zeichneten hingegen das Bild eines Mannes, der zwar wohl unter Depressionen leidet, bei dem auch ein Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) diagnostiziert wurde; der aber vor allem auch eine ausgeprägte narzisstische Persönlichkeitsstörung habe, sich immer wieder als Opfer inszeniere, bei allen außer sich selbst die Schuld suche.
Angeklagter äußert vor Landgericht Siegen Zweifel an den Beweisen
An diesem Montag wirft der heute 43-Jährige seinem Vater vor, dass der ihn seit der Kindheit sexuell missbraucht habe, zusätzlich zu seelischen und körperlichen Misshandlungen, die seine beiden Eltern begangen hätten. Er bleibt dabei allerdings vage und sprunghaft, ergeht sich in unkonkreten Andeutungen, wirkt fahrig. Er sei beim Prozessauftakt sehr aufgewühlt und nervös gewesen, teilt er dem Gericht nun mit. Seine Ausführungen wirken wie eine Replik auf die seither im Verfahren vorgetragenen Zeugenaussagen, die er so nicht stehen lassen will. Er bietet einen Lügendetektortest an, die in der deutschen Justiz nicht als Beweis gelten. Nun sei er bei klarem Bewusstsein, habe jegliche Medikamente abgesetzt.
Er äußert Zweifel an den Beweisen: So habe er die Tatwaffe fallen lassen, nachdem er zwei Mal zugestochen hatte - das Opfer wurde mit dem Messer im Leib gefunden. Außerdem sei der Todeszeitpunkt auf etwa 15.40 Uhr datiert worden - dabei habe er den verletzten Vater deutlich mehr als eine Stunde davor verlassen. „Wer hat 14 Mal auf ihn eingestochen? Ich war es nicht!“ Er habe nach der Tat nicht geholfen und auch keine Hilfe geholt, weil er unter Schock gestanden habe - und weil er sicher gewesen sei, dass der Vater sich selber hätte helfen können; er wisse, dass er ihn nicht getötet habe.
Beschuldigter erhebt vor dem Landgericht Siegen neue Vorwürfe gegen seinen getöteten Vater
Durch mannigfaltigen Missbrauch seit Kindesbeinen bis ins Erwachsenenalter sei er nicht schuld an seiner psychischen Erkrankung, so der Beschuldigte unter Tränen; die „Menschen bei denen ich groß geworden bin“, hätten ihn gefangen gehalten, er habe jeden Tag ums Überleben gekämpft. Er bezweifelt demnach, dass sein Vater sein wirklicher Vater ist, echte Belege dafür hat er aber nicht. Andeutungen, die das nahelegen sollen, wirken eher wirr - etwa, das er als Kind im Urlaub einmal ohne Schwimmflügel ins Meer geworfen worden sei. Er sei manipuliert und gefügig gemacht, wie eine Puppe behandelt worden, habe immer arbeiten und funktionieren müssen, nie Liebe und Zuwendung erfahren, im Gegensatz zu seinem acht Jahre jüngeren Bruder. Immer wieder kommt er darauf zurück, was er alles aus eigener Kraft aufgebaut, geleistet habe - ein zentraler Vorwurf seiner Familie gegen ihn. Nach einem Zusammenbruch 2020 arbeitete er nicht mehr und kümmerte sich ihren Aussagen zufolge unter Verweis auf seinen Zustand auch um kaum etwas, ließ sich finanziell vor allem von seinen Eltern „aushalten“.
Der Angeklagte wiederholt seine Darstellung einer zerstrittenen Familie, die ihn permanent gedemütigt habe, was Zeugen später korrigieren. So bestätigt seine Ex-Frau zwar, dass er ein schlechtes Verhältnis zur Familie gehabt habe, dass oft gestritten wurde, was ihn und die Beziehung sehr belastet habe. Der Zwist habe aber alle betroffen, nicht nur ihn. Als sie sich 2020 von ihm trennte, habe er das kaum verkraftet, seine Situation sich sehr verschlechtert. Diesen Eindruck schildert ein Jugendfreund, zeitgleich habe es auch Probleme im Job gegeben.
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Schon zuvor, während ihrer gesamten 14-jährigen Beziehung habe ihr Ex-Mann emotionale Ausbrüche, depressive Phasen gehabt, sagt die Zeugin, „er hat dann viel geweint und geschrien“. Er sei immer fleißig, kreativ und harmoniebedürftig gewesen, gut bei anderen angekommen. Aber: „Er kam nicht richtig klar im Leben“, ihm habe immer Struktur gefehlt. Seine Familie habe Probleme gehabt, seinen Charakter anzunehmen, seine Erkrankungen seien wohl nie richtig behandelt oder therapiert worden. „Er hat wohl nicht die Liebe bekommen, die er sich wünschte“, sagt auch sein Freund, der Angeklagte sei „sehr feinfühlig“.
Ex-Frau des Beschuldigten: Er konsumierte zuletzt täglich Cannabis und auch Kokain
Zum Ende der Ehe habe er sich so verändert, dass sie seine Gedankengänge teils nicht mehr habe nachvollziehen können, so die Ex-Frau, die zudem nicht nur den täglichen Cannabis-Konsum bestätigt, sondern auch berichtet, dass er Kokain genommen habe, als sich seine Situation verschlechterte. Da er nach der Trennung wohl niemanden zum Reden gehabt habe, telefonierten sie. Stundenlang, „geredet hat immer nur er“. Dabei steigerte er sich auch in „Fantasien“ hinein, sie würde fremdgehen, berichten andere Zeugen. Erwähnt werden auch Wahnvorstellungen von Aliens, Überwachung und Verfolgung.
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Der Jugendfreund des Angeklagten sagt im Zeugenstand, dass die ADHS-Diagnose im Rückblick vieles erkläre, er aber ansonsten ein ganz normaler Junge gewesen sei. Bei den Eltern, wo er auch zu Gast gewesen sei, gab es auch mal Streit, ja, „aber nichts Drastisches“. Die Mutter sei eine starke Frau, „die Zuhause das Zepter in der Hand hatte“, während der Vater von allen Zeugen übereinstimmend als sehr ruhiger, zurückhaltender Mensch beschrieben wird, der nie auch nur die Stimme erhob - auch nicht im Streit. Vielmehr sei er immer derjenige gewesen, der nach Lösungen suchte. „Er war ein ganz lieber Mensch“, sagt sein jüngerer Bruder.