Siegen/Müsen. Totschlags-Prozess vor Landgericht Siegen: Angeklagter ohne Erinnerung an Bluttat in Müsen. Lebensgefährtin des Opfers mit schweren Vorwürfen.
Im Zustand „erheblich verminderter Schuldfähigkeit“ soll der heute 43-Jährige seinen eigenen Vater getötet haben. Der Müsener, der seit der Tat in einer psychiatrischen Anstalt untergebracht ist, bezweifelt, dass der zur Tatzeit 71-jährige Mann, bei dem er aufwuchs, sein Vater war. Beim Prozessauftakt vor dem Landgericht Siegen erzählt der Angeklagte ruhig und gefasst von seinem Leben, von der Tat, an die er nur eingeschränkte Erinnerungen habe.
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Am 7. August 2023, trägt Staatsanwalt Fabian Glöckner vor, soll der Mann etwa um 14.15 den 71-Jährigen in der Küche des Vaters in seinem Haus in Müsen mit mehreren Messerstichen in den Brustkorb getötet haben, „ohne Mörder zu sein“ – erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit. Das Opfer verblutete noch vor Ort. Seine Lebensgefährtin fand ihn nach etwa zwei Stunden, am späten Nachmittag, in einer Blutlache. Sie stürzte auf die Straße, rief um Hilfe. Drei Nachbarn hatten zusammengestanden, hörten die Schreie, auch eine weitere Frau, auf dem Weg nach Hause, wurde aufmerksam. Sie kümmerten sich um die Partnerin des Getöteten, gingen in die Wohnung, fühlten nach dem Puls, telefonierten mit der Leitstelle. Das schildern sie am Dienstag, 6. Februar, alle übereinstimmend im Zeugenstand. Wiederbelebungsversuche: Zwecklos. Als sie auf Anweisung des Rettungsdienstes den Körper umdrehten, entdeckten sie das Messer, das bis zum Heft im Brustkorb des Opfers steckte, und weitere Einstiche.
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Der Beschuldigte, schlank, modischer Haar- und Bartschnitt, runde Brille, räumt die Tat ein. „Wissen Sie, was genau Sie getan haben?“, fragt die Vorsitzende Richterin Elfriede Dreisbach. „Er ist nicht mehr am Leben“, antwortet der Angeklagte, „es kann nicht anders sein, dass ich auf ihm mit einem Küchenmesser eingestochen habe.“ Die Erinnerung sei irgendwie da, aber sehr schwer zu greifen. Er habe in den Monaten seither sehr viel reflektiert, um erzählen, die Tat „annehmen“ zu können.
Er habe ein sehr schweres Leben gehabt, erzählt der Mann, der seinen Vater immer nur beim Vornamen nennt und von dem er glaubt, dass er nicht sein biologischer Vater war. Und er glaubt auch nicht, dass er in Siegen geboren wurde, so wie es in seinem Ausweis steht. Hinweise darauf hätten sich sein Leben lang Stück für Stück zusammengefügt, die Gewissheit habe sich vor der Tat „enorm zugespitzt“. Er habe es nie geschafft, mit seinen Eltern darüber zu sprechen. Schon als Kind habe er starke Depressionen bekommen, „ich war mein Leben lang in einem Gefängnis.“ Nach einem stationären Aufenthalt in einer Klinik nehme er Medikamente, rauchte täglich Cannabis, als Selbsttherapie. „Ich habe das gebraucht, um abends den Kopf auszuschalten, um in den Schlaf zu kommen.“ Alkohol und Drogen finden die Ärzte in seiner Blutprobe nach der Tat nicht.
Angeklagter im Hilchenbacher Totschlags-Prozess: Habe mich fremdgesteuert gefühlt, wie Roboter
Bei der Tat selbst sei er nicht der Mensch gewesen, der er vorher war. „Der hätte das nicht tun können.“ Er sei nachts in einem Sessel aufgewacht, in dem er nicht eingeschlafen war, berichtet er im Gerichtssaal, habe sich fremdgesteuert gefühlt, wie ein Roboter, eine Maschine. „Ich hatte den Eindruck, ich bin umfunktioniert worden.“ Sein Körper habe ihm nicht mehr richtig gehorcht, er habe versucht, das anzunehmen, damit klarzukommen. „Ich fühlte mich beobachtet. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich selber.“ So sei er in den Tag gestartet.
Als er irgendwann am Fenster stand, habe er den Vater gesehen, der im Haus gegenüber wohnt, dazwischen ein Garten. Es habe einen Wortwechsel gegeben, „ich bin der Gott der Liebe“, habe er gerufen. „Du bist krank“, sei die Antwort des Vaters gewesen. Das habe ihn enttäuscht, „wie so vieles zuvor in meinem Leben“. Er habe die Wohnung verlassen, sei durch den Nebeneingang ins Haus des Vaters, der ihm mit dem Handy in der Hand entgegenkam: Er werde die Polizei rufen. Da habe er begonnen, sehr schnell und unverständlich auf ihn einzureden. Der Vater habe ihn beschimpft, er solle gehen, was er tat, der Vater hinterher. Da habe er ihn am Kragen gepackt, in der Küche sei es zu einer Rangelei gekommen. Obwohl jünger, habe er nicht viel Kraft gehabt, ihn dennoch in eine Ecke gedrückt, der Vater habe mit links ein Messer gegriffen, er mit rechts versucht, es ihm zu entwenden. Dabei habe er sich wohl einen Schnitt an der Hand zugezogen.
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Er habe den Vater weggeschubst, mehrmals, dann habe der 71-Jährige mit einer Stimme gesagt, „die sehr viel in mir ausgelöst hat“, dass er mein Vater sei, schildert der 43-Jährige. „In dem Moment ist mein Staudamm gebrochen“, er sei nicht mehr Herr seiner Sinne gewesen, habe nicht mehr gewusst, was er tat. Die Tat selbst erinnere er nicht mehr; als er das Blut gesehen habe, sei er „auf dem Absatz umgedreht“ und zurück in seine Wohnung gelaufen. Der Vater sei da noch nicht tot gewesen. Hilfe holen, dazu sei er nicht fähig gewesen. Ein Zeuge – zufällig der Bruder der Lebensgefährtin des Opfers –, der in die Wohnung unter dem Sohn einziehen wollte und zu dieser Zeit im Keller war, bestätigt, dass er jemanden gehört habe. Dieser jemand habe ihm aber wohl nicht begegnen wollen, sei durch eine andere Tür ins Haus und die Treppe hochgegangen. Dann habe er laut gehört, wie sich jemand übergeben habe.
Die Zeugen, alle wohnen in der Nachbarschaft, können über den Beschuldigten kaum etwas berichten, außer dass sie wussten, dass er etwa zwei Monate vor der Tat in das Haus seiner verstorbenen Großmutter gezogen sei. Die Lebensgefährtin des Getöteten hingegen zeichnet ein anderes Bild des Angeklagten. Sie kenne die Familie und ihn schon Jahrzehnte, die psychische Erkrankung nehme sie ihm nicht ab. „Das ist alles Kalkül.“ Auch ein weiteres vorläufiges Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt sehr wohl schuld- und steuerungsfähig gewesen sein soll. Maßgeblich wird das abschließende Gutachten nach der Beweisaufnahme sein.
Sie hatte ein ungutes Gefühl. Als sich ihr Lebensgefährte nicht meldete, wurde es immer schlimmer
Die Frau berichtet, dass die Familie wegen des Angeklagten schweren Zeiten durchlebt habe. Um nichts habe er sich gekümmert, seinen geschiedenen Eltern immer nur auf der Tasche gelegen, ständig gelogen, Menschen manipuliert, Geld für Lebensmittel gefordert und dann teures Fleisch gekauft oder für Drogen ausgegeben. Obgleich beruflich eigentlich sehr erfolgreich, habe er nach seinem Klinikaufenthalt gar nichts mehr getan, alles auf die Krankheit geschoben. Alles hätte ihn angeblich überfordert, selbst Unterlagen fürs Arbeitsamt zum 200 Meter entfernten Briefkasten bringen. Auf entsprechende Aufforderungen und Ratschläge habe er stets überaus gereizt reagiert. Der Angeklagte, den sie nicht beim Namen nennen will, habe ihren Partner ausgenutzt, der habe aus Angst, sein Kind zu verlieren, immer nachgegeben. Streit habe es nie gegeben, weil der Vater, ihren Schilderungen nach ein sehr ruhiger und besonnener, vielfältig engagierter und vor allem überhaupt kein bedrohlicher Mensch, immer zurückscheute. Dennoch habe sich der Sohn „ständig als Opfer dargestellt, er sei ja so ein armer Kerl. Das konnte er sehr gut.“
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Am Tattag habe sie ihr Lebensgefährte von der Arbeit abgeholt, „er saß wie ein Häufchen Elend im Auto“, erzählt sie mit tränenerstickter Stimme. Er habe gezittert, „ich wusste, dass wieder mal was nicht stimmte.“ Sie habe ihn versucht zu überreden, nicht nach Hause zu fahren, aber er habe das klären wollen. Er erzählte demnach von dem „Ich bin ein Gott“-Wortwechsel. Nachmittags wolle er sich wieder melden. Als er das nicht tat, ihr ungutes Gefühl immer schlimmer wurde, er auch nicht ans Telefon ging, sei sie irgendwann hingefahren und habe ihn in einem wahren See seines eigenen Blutes liegend gefunden.
Angesetzt sind weitere sieben Verhandlungstage, der nächste am Freitag, 16. Februar, 14 Uhr. Wir berichten noch.