Siegen. 1 Prozent der Siegener Bevölkerung will Fotograf Thomas Kellner für „Facetten der Großstadt“ abbilden: Ganz normale Leute, alle können mitmachen.

Mit den Gesichtern der Menschen sammelt Thomas Kellner auch ihre Geschichten ein. Jede Person, die er fotografiert, hat etwas zu erzählen und das tun die meisten auch ausgiebig, berichtet der Siegener Fotokünstler. „Facetten der Großstadt“ heißt sein aktuelles Projekt: Dafür portraitiert Kellner mehr als 1000 Menschen; aus und mit Bezug zu Siegen. Genauer: 1056 sind geplant. Die Zahl kommt nicht von ungefähr: Das ist ziemlich genau 1 Prozent der Siegener Bevölkerung. Und 1056 Personen groß ist häufig die Stichprobe, die für repräsentative Umfragen ausgewählt wird. Kellner fotografiert Menschen und sortiert sie in Kategorien ein: Alter, Geschlecht, Herkunft – so, wie sich auch die Siegener Bevölkerung zusammensetzt. Die Statistik der Stadt ist die Vorlage für sein Werk. Ein „visueller Mikrozensus“.

1000 Menschen sind 1000 Facetten von Siegen: Portraits als Spiegelbild einer ganzen Stadt

Kellner ist studierter Soziologe, besorgte sich die demografischen Daten Siegens, um die Bevölkerung nach bestimmten Maßstäben gliedern zu können. Als Beispiel: Etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist weiblich – von 1056 Portraits werden also mindestens 529 Frauen zeigen. Von gut 52.000 Frauen in Siegen sind etwa 3600 älter als 80 Jahre alt – ungefähr 14 Portraits werden also Seniorinnen zeigen, die vor 1943 geboren sind. „Mehrfach wöchentlich melden sich Leute“, sagt Kellner. Sie haben von seinem Projekt gelesen oder gehört, „die Flüsterpost ist am stärksten“, sagt der 57-Jährige. Rund 220 Menschen hat er bislang fotografiert, vielleicht 80 von ihnen kannte er vorher.

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Diese Portraits sind die Momentaufnahmen von Momenten, die sich vom ersten bis zum letzten Bild und dann bis zur Ausstellung über viele Monate erstrecken wird. Mit zehntausenden Arbeitsstunden kalkuliert der Künstler. Die Portrait-Facetten repräsentieren die Großstadt wie ein Spiegelbild: Flüchtig, immer anders, nie wirklich fertig, ein Aus- und Querschnitt. „Die Sieg fließt jeden Tag durch die Stadt, sieht aber jeden Tag anders aus“, sagt Kellner. Anderes Licht, anderer Blickwinkel. Er erhebt keinen Anspruch auf repräsentative Vollständigkeit, möchte eine bestimmte Struktur zeigen, ein Raster, in dem Menschen stellvertretend für gesellschaftliche Gruppen stehen. „Ich bilde die Stadt ab, aber in Segmenten“. Ähnlich wie bei seinen berühmten Kontaktbögen, nur in größeren räumlichen und zeitlichen Maßstäben. „Würde ich es wiederholen, wäre das Ergebnis ein anderes.“

Corona verändert Arbeitsweise Thomas Kellners: Er fokussiert sich auf Siegen und das Siegerland

„Eine Hommage an August Sander“ ist „Facetten der Großstadt“ untertitelt. Sander, 1876 in Herdorf geboren, gilt neben Bernd und Hilla Becher, ebenfalls Siegerländer, als einer der wichtigsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Sander „sammelte“ Portraits ganz unterschiedlicher Personen ein. Zu seinem 60. Todestag im Jahr 2024 soll eine erste Serie von 60 Portraits erscheinen, nach dem Vorbild von „Antlitz der Zeit“, eine Vorausschau auf das umfassende Gesamtprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Für den 150. Geburtstag des Fotografen im Jahr 2026 und auch vor dem Hintergrund des Siegener Stadtjubiläums wird diese Serie dann um einiges erhöht – auf mehr als 1000.

Der Siegener Fotokünstler Thomas Kellner bei der Arbeit für das Projekt
Der Siegener Fotokünstler Thomas Kellner bei der Arbeit für das Projekt "Facetten der Großstadt - Eine Hommage an August Sander", für das er 1000 Personen aus Siegen portraitiert. © WP | Hendrik Schulz

Im Unterschied zu Sander, sagt Thomas Kellner, sei sein Konzept aber fertig gewesen, als er sich an die Arbeit machte: Die Idee kam ihm in der Pandemie, die sein bisheriges Schaffen beendete. Kellner ist international bekannt geworden mit den Kontaktbögen bekannter Gebäude und riesiger Industrieanlagen; viele Dutzend Einzelfotos, zusammengesetzt zu einem neuen Ganzen, was den Bauwerken ihren „tanzenden“ Charakter verleiht. Dafür reiste er um die ganze Welt, Corona beendete das. Kellner stellte seine Arbeitsweise um, wandte sich regionalen Themen zu – zuerst, angelehnt an die Bechers, Siegerländer Fachwerkhäuser und Kapellenschulen. Dann, inspiriert von Sander, den Menschen. „Dafür muss man nicht durch die Gegend fliegen“, sagt er. Er arbeite mit dem, was vor der Haustür sei – und was dennoch Relevanz habe, über die Region hinaus.

Beeindruckende Portraits von Menschen aus und mit Bezug zu Siegen: Stolz und Gelassenheit

Die Fotos sind in ihrer Farbigkeit reduziert, der Hintergrund ist unscharf, aber oft dennoch präsent. Die Gesichter blicken unverwandt in die Kamera, drücken Selbstbewusstsein aus, Ruhe und Gelassenheit. Stolz. Auf sich oder ihre Stadt, ihren Beruf oder dass sie Teil eines solchen Projekts sein können. Die Menschen befinden sich an Orten, die ihnen ganz persönlich wichtig sind, oft mit privaten Gegenständen oder Arbeitsgeräten.

Die Umgebung gibt ihnen etwas mit, sie fühlen sich in ihrer gewohnten Umgebung wohl, sie verorten sich.
Thomas Kellner - über die Portraitierten

Die meisten hätten direkt eine Idee für ihr Bild. Kellner kennt die Portraitierten in der Regel nicht, weiß nicht, wohin und zu wem er da kommt. Wie soll er sich das Bild also vorher vorstellen? Will er auch gar nicht. „Ich möchte jedes Bild individuell komponieren können.“ Wichtig sei, dass sich die Menschen auf den Bildern selbst gefallen, dass sie sich damit identifizieren. „Die Umgebung gibt ihnen etwas mit“, sagt Kellner, „sie fühlen sich in ihrer gewohnten Umgebung wohl, sie verorten sich.“ Das sieht man auch.

Thomas Kellner trifft in und um Siegen beeindruckende Menschen: Warum sie mitmachen

Die einen melden sich, weil sie Thomas Kellner kennen und die Chance sehen, Teil des Werks eines international renommierten Künstlers zu werden. Die zweite Gruppe habe einen ähnlichen Grund: Neugier. Sie reizt die Aussicht, bei einem Kunstwerk mitzumachen. Oft findet künstlerisches Schaffen im geschlossenen Atelier statt, unzugänglich, im Elfenbeinturm. Kellner ist buchstäblich ganz nah dran: Bei den Leuten zuhause oder am Arbeitsplatz. Zur dritten Gruppe kommt Kellner häufig in Kontakt über die jeweiligen Arbeitgeber: Sie möchten ihre Arbeitswelt darstellen, den eigenen Beruf sichtbar machen, durchaus auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels. Krankenhäuser und Theater sind bereits dabei, Autohäuser und Metallbetriebe.

Ihn interessieren dabei weniger „Promis“, deren Gesichter sowieso jede Woche in der Zeitung sind. Sein Spiegelbild der Stadtgesellschaft soll unerwartete Facetten zeigen. Nicht nur die, die er nicht kennt: Auch die, die nicht hier leben. Die hier arbeiten, nur tagsüber zur Siegener Gesellschaft gehören und nachts zu der einer anderen Stadt. Die aber trotzdem dazugehören. Genauso wie die, die vielleicht nur ab und zu mal nach Siegen kommen. Alles Facetten der Großstadt. All diese Menschen sind ganz normale Leute und dabei so ungewöhnlich wie alle Menschen ungewöhnlich sind. Auch das ist der Reiz für den Fotografen; er trifft Leute, die er ohne „Facetten der Großstadt“ nie kennengelernt hätte. Er hört faszinierende Lebensgeschichten, schöne und traurige. Er bringt viel Zeit mit, weil die Menschen sich auch viel Zeit nehmen. Die sich Gedanken machen, am Anfang oft aufgeregt sind, und dann ins Plaudern geraten, zusammen mit dem Künstler an Ideen für ihr Portrait feilen. „Einfach toll“, sagt Kellner.

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Im Moment passen noch fast alle, die Interesse haben, ins Projekt; noch muss er niemandem absagen. Kompliziert werde es erst, wenn die soziodemografischen Gruppen „volllaufen“. „Es wird kein Projekt der weißhaarigen Herren“, sagt Kellner. Diese Gruppe werde als erste fertig werden, das zeichne sich ab. Am schwierigsten werden vermutlich die Kinder, erwartet der Künstler: Denn für die braucht er die Einverständniserklärung der Eltern. Ohnehin merke er bereits, welche Hürden die Statistik bereithalten kann: „Ich habe einen 100-Jährigen, aber keine 100-Jährige.“