Siegen. Der Siegener Künstler und Architekturfotograf Thomas Kellner reiste für sein Projekt genius loci im Zeitraum von zwei Jahren ins russische Jekaterinburg - vor 290 Jahren vom Siegener Ingenieur Georg Wilhelm Henning, um die Industriearchitektur am Ural und im Siegerland zu fotografieren.
Vor wenigen Jahren noch war Jekaterinburg eine verbotene Stadt: Als Ausländer war man potenzieller Spion – in den dortigen Stahlwerken werden auch Waffen produziert. Thomas Kellner, Künstler und Fotograf aus Siegen, wollte genau da hin: In die Stahlwerke Jekaterinburgs. Denn vor 290 Jahren wurde die Stadt am Ural gegründet. Von einem Siegener. Im Siegerland Westrusslands.
Die Geschichte
Georg Wilhelm Henning, Ingenieur aus Siegen, gründete Jekaterinburg 1723 im Auftrag von Zar Peter dem Großen. Für den Monarchen sollte er Fabrikstandorte ausloten. „An Flüssen“, erklärt Thomas Kellner, „sie wurden aufgestaut, die Fabrik gebaut, die Stadt drumherum.“ Henning war Kanonengießer, wurde in Amsterdam von Zar Peter re-krutiert.
Die Städte
„Außer dem Gründer sind Landschaft und Wirtschaft eine wichtige Verbindung zwischen Siegen und Jekaterinburg“, sagt Kellner. Hügelige Landschaft, Erzbergbau, Stahl- und Maschinenproduktion – Siegerland und Ural haben durchaus Parallelitäten. „Absolut vergleichbar, große Weiten des Urals sind geprägt vom Bergbau und Metallverarbeitung“, sagt Kellner.
Das Projekt
Das Metenkov Haus, Museum für Fotografie in Jekaterinburg schickte Kellner Anfang 2012 eine Anfrage: Zum 290. Geburtstag der Stadt sollte ein Ausstellungsprojekt zu Ehren Jekaterinburgs entstehen. Und zwar mit Bezug zum Siegerland, woher der Stadtvater stammte. „Wie die meisten habe ich das erstmal nicht geglaubt, mit Henning ist das wie mit Rubens“, lächelt Kellner. Aber: Beim Kreiskirchenamt fand sich die Taufurkunde, in zwei russischen Quellen aus den 1820er Jahren finden sich Hinweise auf Siegen.
Zwei Jahre pendelte Kellner zwischen Westfalen und Russland hin und her, konzipierte Bilder, recherchierte, fotografierte. 20 russische und 10 deutsche Bilder sind so entstanden, Portraits der Firmen aus der Metallindustrie hier wie dort. Der älteste Hochofen der Welt, Eingangshallen, Verwaltungsgebäude, Gasbehälter, Kühl- und Staubtürme. Kellner wählte mehrere Zugriffe aufs Thema: Motivisches, Geschichtliches, Funktionales.
Die Kunst
„Ich zeige die Dinge in Bewegung“, sagt Kellner. Die Bilder brummen, vibrieren vor Geschäftigkeit: Keine geraden Linien und statischen Objekte, sondern eingefrorene Bewegung wie flimmernde Luft. Durch riesige Stahlrohre pulsiert Energie, Schornsteine spucken Dampfschwaden aus. „Die Bilder sind Ausdruck einer energiegeladenen, umsatzträchtigen, lebendigen Industrie“, so der Fotograf. Dabei gehört der sichtbare Entstehungsprozess, die einzelnen Negative zum Werk, Kellner thematisiert das Material genauso wie seine Vorgehensweise.
Die Arbeitsweise
Der ganze Kontaktbogen ist das Gesamtbild. Auf den ersten Blick wirkt ein Kellner-Motiv wie zerschnitten und neu, anders zusammengesetzt. Vor dem Bild kommt die Ausarbeitung: Auf Kompositionsskizzen zeichnet Kellner, wie das Motiv tatsächlich aussieht (Bild 1). Dann überträgt er seine Vorstellung vom fertigen Motiv aufs Storyboard (Bild 2): Welcher Bildausschnitt kippt von links nach rechts? Welches Einzelbild wird gekippt? Nach dieser Vorlage fotografiert Kellner vor Ort. Er erarbeitet eine Skalierung fürs Stativ, das er zwischen den einzelnen Belichtungen den Markierungen gemäß verschiebt und dreht. Bis zu 400 Bilder macht er in Reihe auf 35-Millimeter-Negativ, diese Reihen zusammengesetzt ergeben das Bild.
Die Technik
Kellner fertigt die Fotos mit einer analogen Spiegelreflexkamera und Brennweiten zwischen 24 und 4000 Millimetern an. „Wenn etwas schiefgeht, ist das Teil des Prozesses, der Zufall ist sozusagen einkalkuliert“, erklärt Kellner. Wie ein Dompteur dirigiere er anhand des Fahrplans, des Storyboards, was passiert, wird zum Bestandteil des Bildes. Bei hunderten Einzelbildern kann er Fehler nicht verbessern: Zwischen zwei und dreieinhalb Stunden fotografiert Kellner für ein Werk in einem durch.
Einfach wiederholen geht auch aufgrund des Lichts nicht: Sind die 400 Bilder vom Vormittag fehlerhaft, steht am Nachmittag die Sonne anders. „Das kann ich dann erst am nächsten Tag wiederholen“, sagt Kellner. Aber das komme im Grunde nicht vor. Die Negative werden gescannt und auf Fotopapier belichtet. „Der Kontaktbogen ist 1:1, was ich fotografiert habe.“
Die Ausstellung
Vorige Woche wurde die Ausstellung in Jekaterinburg eröffnet, sie wird nach Moskau und Pingyao in China touren. Im Januar ist die Ausstellung im Siegerland, mit Station im Düsseldorfer Landtag. Publiziert wird ein russischer Katalog sowie ein mehrsprachiger Bildband mit 150 Seiten und Texten über das Eisenland Siegerland, über Georg Wilhelm Henning und über die Industriefotografie. „Alle Perspektiven, Geschichte, Kontext werden berücksichtigt“, so Kellner. „Damit bin ich glücklich.“