Siegen. Sechs Wochen nach der Cyberattacke wird das Improvisieren im Siegener Rathaus zur Routine. Nur Heiraten geht (fast) ohne Computer.
Manchmal wird ihnen kalt. Dann sind sie dankbar für das warme Getränk, das eine Kollegin oder ein Kollege vorbeibringt. An der Pforte nehmen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bürgerbüros die Leute in Empfang, die etwas von der Stadt Siegen wollen. Mit manchen kommen sie an einem der Stehtische im Treppenhaus des Oberstadt-Rathauses ins Gespräch, einige werden in eines der Büros weitergeschickt. Viele müssen aber auch direkt kehrtmachen. „Wir können nur in ganz wenigen Fällen helfen“, sagt Erika Nothacker, die Leiterin des Bürgerbüros.
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Stadt hat keinen Zugriff auf Daten ihrer Bürger
Woche 6 nach dem Cyber-Angriff auf die Südwestfalen IT (SIT), bei der mehr als 100 Stadtverwaltungen ihre Daten in Sicherheit glaubten. Der Wartebereich des Bürgerbüros ist leer. Man kann hier den Personalausweis abholen, sofern er vor dem 29. Oktober beantragt wurde. Oder sich in dringenden Fällen eine „Passermächtigung“ geben lassen - damit kann man im rheinland-pfälzischen Kirchen eine provisorischen Ausweis beantragen; die Bearbeitung übernehmen zwei Verwaltungsangestellte aus Siegen, die vorübergehend dorthin umgezogen sind. Ansonsten wird mit handgestrickten Bescheinigungen improvisiert - bis weit ins Hessische hinein haben die Siegener telefoniert, damit die Kollegen sich nicht wundern. Junge Eltern, deren Baby gerade in Siegen zur Welt gekommen ist, legen dann statt der Geburtsurkunde eine „Bescheinigung über die Zurückstellung der Beurkundung“ vor, um den Neubürger in seiner Gemeinde irgendwo oben im Westerwald anzumelden und damit auch noch Kindergeld zu beantragen.
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Melderegister, Personenstandsregister, Ausländerdatei: An nichts kommen die Leute vom Bürgerbüro ran. Trotzdem können Bürger nicht warten. Erika Nothacker nennt als Beispiel den türkischen Staatsangehörigen, der Urlaub in der Heimat macht, aber nicht wieder zurückgelassen wird, wenn er keinen deutschen Aufenthaltstitel vorlegen kann. „In den ersten Tagen haben wir sogar mit der Hand geschrieben“, berichtet Erika Nothacker. Inzwischen gibt es 250 neue Rechner, die per Mobilfunk ins Internet kommen und per USB-Kabel an den Drucker. „Über jeden nächsten Schritt sind wir froh.“
Leute können einfach verschwinden
Derweil wächst der Stapel an Papieren, der irgendwann wieder in die digitalen Dateien eingepflegt werden muss. In Witten sind sie zwei Jahre nach dem dortigen Hackerangriff immer noch dran, weiß Bürgermeister Steffen Mues. Je länger die SIT online ist, desto größer ist das Risiko, dass die Spuren von Menschen sich verwischen. Ein nicht registrierter Wegzug reichen und eine unterbliebene Anmeldung am neuen Wohnort reichen schon aus. „Beim Zensus hat uns das mal unter die 100.000-Einwohner-Grenze gebracht“, erinnert der Bürgermeister. Vom Ausfall der Zweitwohnungssteuer ganz zu schweigen.
Die Ankündigung der SIT, dass nächste Woche ein „Notbetrieb“ mit den ersten Fachsystemen möglich wird, nimmt man im Rathaus mit Vorsicht zur Kenntnis. „Ich weiß nicht, inwieweit uns das weiterhilft“, sagt Steffen Mues. „Wenn überhaupt, dann nur in geringer Stückzahl“ werden der Stadt die Rechner („eine Handvoll“) zugeteilt, mit denen der Zugang ins SIT-Notnetz erlaubt wird, sagt Stadtbaurat Henrik Schumann, Leiter des Krisenstabs, „das wird sehr rudimentär sein.“
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Neue Hochzeitstermine gibt es in Siegen nicht
Verena Scheele ist da fein raus. Heiraten, erklärt die Standesbeamtin im Trauzimmer, kann man nämlich nur mit einer „höchstpersönlichen Willenserklärung“. Und die funktioniert Rechner. Überhaupt: Hier gibt es noch ganz viel Papier, „Sammelakten“ mit all den Urkunden, die zum Beispiel für ein Aufgebot vorgelegt werden müssen. Die alten Karteikarten aus dem Einwohnermeldeamt sind mikroverfilmt, „und zur Sicherheit auch noch digitalisiert“, erzählt Erika Nothacker. Zur Sicherheit.... Wer allerdings erst in Zukunft in Siegen heiraten will, bekommt ein Problem. „Wir haben keinen Zugriff auf unsere Kalender“, erklärt Verena Scheele, „deswegen vergeben wir keine Termine.“ Nicht, dass da zwei Paare kommen und kein Standesbeamter im Haus ist.
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Mit den 3000 Geburten, 2500 Sterbefällen und 500 Eheschließungen im Jahr kommt das Standesamt zurecht - auch mit den improvisierten Dokumenten sind Witwenrenten beantragt und Nachlässe geregelt worden. Mit Adoptionen und Vaterschaftsanerkennungen ist das gerade etwas komplizierter, Unterhaltsansprüche und geänderte Familiennamen sind derzeit eben nicht registrierbar. Auf dumme Gedanken kommen sollte deshalb niemand. Denn irgendwann werden die Systeme wieder laufen. „Spätestens dann wird alles auffallen“, sagt Verena Scheele. Die Ehe mit falscher eidesstattlicher Erklärung zum Beispiel, die ein bereits Verheirateter geschlossen hat. „Dann wird die Bezirksregierung den Antrag zur Auflösung der Ehe stellen.“ Das wird dann nicht nur peinlich, sondern auch strafbar.
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