Siegen. Was bedeutet die Cyber-Attacke auf die SIT für die Siegener Bevölkerung? Wann wird endlich wieder alles normal? Hier sind Fragen und Antworten.

Der Cyberangriff auf die Südwestfalen IT (SIT) ist nichts, was nur das Innenleben von Behörden betrifft. Die Blockade aller dort gespeicherten Daten schränkt das Leben von Menschen in 103 Städten und Gemeinden ein. Bürgermeister Steffen Mues spricht daher von einer „absoluten Kastastrophe“. Die kein absehbares Ende hat, wie Stadtbaurat Henrik Schumann sagen muss, der seit drei Wochen vor allem als „Leiter des Stabes für außergewöhnliche Ereignisse“, im Volksmund: Krisenstab, gefragt ist: „Das kann durchaus ein Jahr und länger dauern. Wir haben einen Marathon vor uns.“ Am Donnerstag haben Mues, Schumann und Feuerwehrchef Thomas Jung, der den Krisenstab koordiniert, über die Lage informiert. Die Stadtverwaltung gehe das Thema offen und transparent an, betont der Bürgermeister. Es wird persönliche Briefe an alle Siegener und Informationsveranstaltungen geben. „Wir wollen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger erhalten.“

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Wie hat die Stadt reagiert?

Zunächst einmal schnell. In der Nacht von Sonntag auf Montag, vom 29. auf den 30. Oktober, werden die Verschlüsselung aller Dateien und das Erpresserschreiben entdeckt. Bereits um 5.30 Uhr kommt am Montagmorgen der Krisenstab zum ersten Mal in der Feuerwache zusammen, am Anfang bis zu 25 Personen, die dort nun vier Mal am Tag tagen. Die Berufsfeuerwehr muss zusammenrücken, „wir haben Büros frei gemacht“, berichtet Thomas Jung. Jedes der fünf Dezernate ist mit eigenem Büro dort vertreten, sozusagen als Brückenkopf, bis die Telefone wieder funktionieren. Erreichbarkeit sichern, neue IT-Strukturen aufbauen, die wichtigsten Dienstleistungen wieder aufnehmen, das hat am Anfang Priorität. Bereits am zweiten Tag ist eine Notfall-Homepage am Netz, mittlerweile gibt es neue E-Mail-Adressen, die Telefonanlage ist wieder in Betrieb. „Wir hatten nur noch Wasser und Strom“, erinnert Henrik Schumann an die ersten Tage. In aller Eile werden 200 Laptops für die insgesamt rund 1500 Mitarbeitenden arbeitsbereit gemacht, 50 WLAN-Router stellen eine Anbindung ans Netz her.

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Was bedeutet das für Siegener Bürgerinnen und Bürger?

Das Allernötigste geht. Provisorische Personalausweise und Reisepässe stellt die Verbandsgemeinde Kirchen im rheinland-pfälzischen Nachbarkreis Altenkirchen aus; dazu muss man sich eine „Ermächtigungsbescheinigung“ im Siegener Rathaus abholen. Die Auszahlung der Grundsicherung an Rentner ist sichergestellt, auch Baugenehmigungen können erteilt werden. Die Änderung der Steuerklasse geht dagegen nicht. „Wir können keine Urkunden ausstellen“, sagt Stadtrat Arne Fries, keine Geburts- und keine Sterbeurkunden. Die einen sind nötig, um Kindergeld zu beantragen, ohne die anderen gibt es keinen Erbschein. Die Betroffenen bekommen nur eine Bescheinigung in die Hand gedrückt. Sicher ist: Wer mit der Stadt gemailt hat, hat nicht deshalb den Virus auf dem eigenen Rechner. Unwahrscheinlich ist, dass die gehackten Daten schon verwendet werden. Henrik Schumann rät, bei ersten Anzeichen falscher Abbuchungen die Polizei einzuschalten..

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Wie macht sich die Stadtverwaltung wieder arbeitsfähig?

Alles hängt davon ab, wann welche Daten wieder zur Verfügung stehen. Welches Backup ist noch sauber und kann für die Wiederherstellung verwendet werden? Ab welchem Datum sind Daten vernichtet und müssen wieder neu beschafft werden? „Wir wissen es nicht“, sagt Henrik Schumann. Bebauungspläne gibt es auf Papier. Die damit verbundenen Verfahren aber nicht, die laufenden am allerwenigsten. „Da müssen wir abwägen.“ Abwarten? Oder neu anfangen? Oder doch noch ein externes Büro finden, das zufällig auch noch einen Datensatz hat? Die Arbeit in der Verwaltung hat sich verändert. Das, was ohne den Datenbestand möglich ist, wird getan. Wer ohne Dateien nicht weiterkommt, hilft woanders aus – viele Arbeitsprozesse sind jetzt aufwändiger geworden. Über die Hersteller der Software knüpft Siegen Kontakt mit anderen Behörden, die mit denselben Fachprogrammen arbeiten. Da können sich Siegener Verwaltungsmitarbeiter mit einloggen. „Wir schicken die Mitarbeiter quer durch Deutschland.“ An die eigenen Dateien kommen sie dort natürlich auch nicht.

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Welche Folgen hat das für die Stadtfinanzen?

„Wir sind zahlungsfähig“, versichert Kämmerer Wolfgang Cavelius, „aber wir haben keinen Überblick über die Budgets.“ Und letztlich auch nicht darüber, wer seine Steuern pünktlich zahlt. Vorbild könnte der Unternehmer sein, der pünktlich am 15. November angeboten hat, die Gewerbesteuer von sich aus zu überweisen – weil doch die Abbuchung nicht funktioniert. Irgendwann wird jeder zahlen müssen, dann aber mit deftigen Säumniszuschlägen. Inzwischen hat die Stadt aber Wege gefunden, wie sie an Grund- und Gewerbesteuern kommt. Schwerwiegender ist die Blockade der Haushaltsplanung. Am 29. Oktober habe er die Fachabteilungen wissen lassen, dass der Entwurf des Etats „in Laufwerk H“ bereitgestellt sei. „Da liegt er nun.“ „Hättest du das einen Tag vorher gesagt, hätte ich ihn ausgedruckt“, sagt Bürgermeister Steffen Mues. Siegen kann nun aber auch gelassen die Änderung des Haushaltsgesetzes durch den Landtag im Februar abwarten. Danach werde Siegen „wahrscheinlich nicht mehr“ in die Haushaltssicherung abrutschen. Was sonst, bei einem zweistelligen Millionendefizit, vor Weihnachten zwangsläufig passiert wäre.

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Hättest du das einen Tag vorher gesagt, hätte ich ihn ausgedruckt.
Steffen Mues, Bürgermeister, zu Kämmerer Wolfgang Cavelius über den Etat 2024

Inwiefern ist der Cyberanschlag ein Eingriff in die Demokratie?

Bürgermeister Steffen Mues spricht von einem „Eingriff in die Demokratie“. Denn zu den 28 digitalen Fachanwendungen, die in den meisten Kommunen Südwestfalens nicht mehr zugänglich sind, gehört das Ratsinformationssystem mit allen Beschlussvorlagen und Protokollen des Rates und der Ausschüsse. „Wir tun alles, um die demokratischen Prozesse aufrechtzuerhalten.“ Vorlagen werden neu erstellt, ausgedruckt und mit dem Fahrradkurier zugestellt. Allein die Unterlagen zum Satzungsbeschluss des Bebauungsplans für das Kremer-Naturgartencenter neben Ikea seit 150 Seiten dick. Macht bei rund 100 Entscheidungsträgern in Rat und Ausschüssen 15.000 Seiten Papier. Nur als Beispiel.

Es wird ein Riesenaufwand sein, das alles aufzuarbeiten.
Wolfgang Cavelius, Kämmerer

Warum dauert das alles so lange?

Die Fachprogramme und die Dateien werden vielleicht in einigen Monaten wieder verfügbar sein. Dann aber müssen alle Vorgänge nachgetragen und nachgeholt werden, von den Geburtsurkunden bis zu den Ein- und Auszahlungen der Stadtkasse. Siegen steht in Kontakt zu Witten und Potsdam, denen ähnliches passiert ist. Die haben zwei Jahre gebraucht.

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Welche Konsequenzen hat der Cyberangriff?

Finanziell wird nicht nur die SIT bluten, sondern auch die Stadt, nicht nur für die Anschaffung neuer Hardware. „Es wird ein Riesenaufwand sein, das alles aufzuarbeiten“, sagt Wolfgang Cavelius, „das kostet Geld und Mühe.“ Letztlich seien die Kosten für die Stadt derzeit „nicht bezifferbar“. Wiederholt betont Bürgermeister Steffen Mues, es sei „heute kein Tag der Schuldzuweisungen“. Bisher sei die Schadsoftware „weder entfernt noch deaktiviert“ worden. „Wir werden uns zu gegebener Zeit damit beschäftigen, wie wir als Stadt Siegen unser System künftig sicher aufstellen“, sagt Henrik Schumann. Der Bürgermeister lässt Unzufriedenheit mit dem von den Kommunen getragenen Dienstleister SIT durchblicken. Eigentlich wäre es dessen Aufgabe, Fragen zu beantworten. „Die Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte, wer dafür Verantwortung trägt und welche Konsequenzen zu ziehen sind – mit diesen Fragen werden wir uns beschäftigen müssen.“

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