Grissenbach. Vor gut einem Jahr wurde Thorsten Görg krank. Jetzt meldet er sich im Dorf zurück- so öffentlich wie möglich. Dafür hat er einen wichtigen Grund.
Auf einmal war es still. Lange nichts mehr gehört, schreibt jemand irgendwann auf seine Facebookseite. Fast ein Jahr soll es dauern, bis Thorsten Görg sich zurückmeldet. Beim Herbstmarkt in Grissenbach sehen seine Mitbürger ihn zum ersten Mal wieder. „Ich bin heute froh und dankbar dafür, dass ich auf dieser Erde bleiben durfte“, schreibt er kurz darauf. „Ich war überwältigt, wie man mir in meinem geliebten Heimatdorf Grissenbach am Herbstmarkt am 3. Oktober nach über einjähriger Abwesenheit begegnet ist. Ich bin froh, dass ich euch alle um mich herum haben darf.“ Thorsten Görg hat seine Depression überlebt.
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Völliger Rückzug
Der 54-Jährige ist kein stiller Typ. Im Dorf engagiert er sich, geht Konflikten nicht aus dem Weg, ist Vorsitzender des Dorfgemeinschaftsvereins, Mitglied der örtlichen Feuerwehreinheit, kommunalpolitisch aktiv und seit vorigem Jahr als Mitglied der UWG-Fraktion auch Stadtverordneter. Anfang September 2022 war das, erinnert er sich: „Da ging das los. Ich hatte keine Lust mehr, irgendwo hinzugehen. Habe mich richtig hängen lassen.“ Heute beschreibt Thorsten Görg das als „völligen sozialen Rückzug“.
Überlastung vielleicht? Immerhin ist der Drucker auch Vorsitzender des Betriebsrats bei der Erich Utsch AG, vertritt dort die Interessen von rund 180 Kolleginnen und Kollegen. „Der Hausarzt hat mich erst mal krankgeschrieben.“ Medikamente hat er sich verschreiben lassen, im Februar eine dreiwöchige Reha. Besser wurde es nicht, die Gespräche mit den Psychologen und die gruppentherapeutischen Angebote gehen irgendwie an ihm vorbei.
Fast drei Monate in der Klinik
Zu Hause verschlechtert sich sein Zustand. „Du hast nur noch eins im Kopf: Wie machst du es?“ Es – das ist der Suizid. Thorsten Görg nimmt am 17. Mai eine Überdosis Tabletten. Seine Frau findet ihn rechtzeitig, auf der Intensivstation wird sein Leben gerettet. Anschließend kommt er in die Psychiatrie des Klinikums Siegen. Endlich an einen Ort, wo er kompetente Hilfe bekommt. „Man hat erkannt, dass es eine schwere Depression ist.“
Ehefrau Anja, Bruder, Schwester, die beiden erwachsenen Stieftöchter sind an seiner Seite. „Am Anfang war es schwierig“, berichtet Thorsten Görg, der nun bis Anfang August im Krankenhaus bleibt. Anders als bei der erfolglosen Reha sei das gewesen. „Du hast dich verstanden gefühlt“, erzählt er, „vielleicht auch, weil man selbst eingesehen hat, dass man krank ist.“ Irgendwann dann kommt der innere Antrieb zurück, der ihm im September 2022 verloren gegangen ist. Und dann endlich die Entlassung zurück ins Leben.
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Wiedereinstieg nach einem Jahr
„Im September habe ich wieder angefangen zu arbeiten.“ Schritt für Schritt, zuerst einmal für zwei Stunden am Tag, dann immer mehr. Ja, sagt er, ein bisschen Unsicherheit war schon dabei: „Wie reagieren die Leute auf mich?“ Depression, das hat er auch vor einem Jahr schon gewusst, ist mit einem Tabu behaftet – allzu gern behelfen sich Betroffene mit der Ausflucht in ein „Burnout“, das man als Nebenwirkung fleißigen Schaffens eher akzeptiert als den Zusammenbruch, der zu Unrecht mit Schwäche in Verbindung gebracht wird.
„Ich was positiv überrascht“, erzählt Thorsten Görg über das Wiedersehen in der Firma. Seine Frau konnte das aber voraussehen: Die Kollegen hatte über all die Monate Kontakt gehalten, immer wieder nachgefragt – zu ihm selbst waren sie nicht durchgedrungen. „Ich wollte nicht.“ Den Posten als Betriebsratsvorsitzender hat er behalten, in Netphen kann er im Rat weitermachen – natürlich habe er darüber nachgedacht, das Mandat aufzugeben, sagt er. „Man denkt, man wird den Anforderungen nicht mehr gerecht.“ Es sei dann schon ein schönes Gefühl, „wenn man merkt, die sind froh, dich wiederzusehen.“ Am 3. Oktober steht er beim Herbstmarkt im Grissenbach im Rondell. Und zapft.
Depression öffentlich machen - um zu helfen
Im Dorf weiß jeder, was mit Thorsten Görg passiert ist. Weil ihm das nicht genügt, erzählt er seine Geschichte auch hier. Weil er weiß, dass er da nicht anders war als so viele um ihn herum. „Ich hatte nie gedacht, dass so etwas kommen könnte.“ Das gepflegte Desinteresse hat er auch vorher gekannt. Als sie in der Firma einen Tag der psychischen Gesundheit angeboten haben, hätten sich gerade einmal zwei Kollegen gemeldet. „Es gibt immer mehr Leute auch in meinem Umfeld, die Probleme bekommen.“ Jeder Prominente, jeder Sportler, der seine psychische Erkrankung öffentlich macht, hilft anderen, rechtzeitig Unterstützung zu suchen. Davon ist Thorsten Görg überzeugt. „Ich war ja selber nicht der Meinung, dass ich krank bin.“ Wäre ihm das früher klar gewesen, hätte er sich wahrscheinlich sehr schnell selbst ins Krankenhaus begeben. In dem Wissen, dass Depression kein Makel, sondern eine Krankheit ist, die tödlich ausgehen kann. „Ich möchte den Menschen aber auch Hoffnung machen – dass es wieder weitergehen kann.“ Wie bei ihm.
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Alles wie früher? Nach wie vor nimmt Thorsten Görg ambulante Therapietermine wahr. „Keiner kann sagen, ob es so bleibt.“ Er lebe bewusster, ruhiger. „Ich mache ein bisschen weniger.“ Dass er mit der Krankheit lebt, macht ihm der Bescheid deutlich, der ihm nur eine Schwerbehinderung von 50 Prozent bescheinigt. „Macht fünf Tage Urlaub mehr“, sagt er. Und lacht.
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