Wilgersdorf. Bei der Synode des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein geht es auch um die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs gegen einen Kirchenmitarbeiter in Siegen.
Nicht öffentlich darüber reden. Nicht werten, nicht urteilen. Bloß nicht all das, ehe die Staatsanwaltschaft Siegen ihre Ermittlungen nicht abgeschlossen hat. Das war die große Mahnung. Und doch waren am Mittwoch bei der ersten Synode des am 1. Januar 2023 neu formierten Evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein die Missbrauchsvorwürfe gegen den ehemaligen Kirchenmitarbeiter des Kirchenkreises ein Thema. Sie machten Schlagzeilen und führten letztlich in der Folge zum Rücktritt von Annette Kurschus als EKD-Ratsvorsitzende und Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen. In der Turnhalle der CVJM-Jugendbildungsstätte in Wilgersdorf ging es nach Andacht, Liedern und Gebet zunächst in sämtlichen vorangestellten Redebeiträgen auch um die „Causa Siegen“, die „Causa Kurschus“.
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Landrat: Ganz genau hinsehen
So mahnte Andreas Müller, Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein, in seinem Grußwort an, dass jetzt auch die Zeit sei, „Wahrheit Wahrheit zu nennen und Lüge Lüge“. Es gelte, ganz genau hinzusehen und sich der Vergangenheit zu stellen. Die Frage der sexualisierten Gewalt treibe die Gesellschaft um. Für die Zukunft gelte zu schauen, dass Strukturen so gestaltet seien, dass Kinder und Jugendliche optimal geschützt würden, damit Täterinnen und Täter keine Chance hätten.
Sieben Zeugen
Die Staatsanwaltschaft Siegen bearbeitet Aussagen von sieben Zeugen. „Nach derzeitigem Stand der Ermittlungen sind Gegenstand des Verfahrens Vorfälle aus den 80er und 90er Jahren“, teilt Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss auf Anfrage dieser Zeitung mit, „Vorfälle aus den letzten Jahren sind hier bislang nicht bekannt.“ Und: „Hinweise auf einen sexuellen Missbrauch von Kindern liegen hier nicht vor.“
Der Staatsanwaltschaft sei die Person nicht bekannt, die gegenüber der Siegener Zeitung angegeben habe, als Kind Opfer geworden zu sein. „Es stehen hier noch Zeugenvernehmungen an. Was diese Zeugen angeben werden, kann nicht prognostiziert werden.“
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Gemeinsam erschüttert, entsetzt, wütend und betroffen – das sei angesichts der Siegener Missbrauchsfälle die Befindlichkeit innerhalb der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, sagte Landeskirchenrat Dr. Jan-Dirk Döhling, der für die übergeordnete Ebene sprach. Allen Verdachtsfällen müsse nachgegangen werden, über die Staatsanwaltschaft und auch über eine unabhängige Untersuchung. Es brauche die unbedingte Solidarität mit den Betroffenen. Annette Kurschus habe der Aufarbeitung die Priorität vor ihrer eigenen Person eingeräumt. „Das gebietet Achtung.“ Sie habe als „Kirchenleiterin mit großem Herzen“ agiert und Orientierung in vielen Fragen gegeben, auch in der „so schwierigen friedensethischen Frage angesichts des Kriegs Putins gegen die Ukraine“. Dabei habe sie es vermieden, „Menschen, die anderer Auffassung waren, in die Ecke zu stellen“.
Evangelisches Kirchengesetz geht weiter als das Strafrecht
Superintendent Peter-Thomas Stuberg ging es in seinem einführenden Redebeitrag darum, „aus der Lähmung heraus“ eine Perspektive finden zu wollen. Sein Bericht stellte angesichts des Siegener Missbrauchsfalls zunächst den Stand der Dinge dar. Nachdem sich Betroffene bei der landeskirchlichen Meldestelle geäußert hätte, habe der Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein Anfang des Jahres „unverzüglich“ die Ermittlungsbehörden eingeschaltet. Gegenwärtig sei die Staatsanwaltschaft „die zuständige Behörde für die Ermittlung aller Sachverhalte und der daraus folgenden Konsequenzen“. Unabhängig vom Ergebnis des laufenden Verfahrens nehme man die Schilderungen der Betroffenen „sehr, sehr ernst“ und höre „im persönlichen Gespräch mit ihnen sorgfältig hin“. Auch mit der Einrichtung eines Interventionsteams, auch – im Kontext des landeskirchlichen Verfahrens – mit der Beauftragung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission. Es dürfe, so Stuberg in der anschließenden Diskussion, „in unseren Reihen keine Betroffenen mehr geben“.
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In seinem Bericht verwies der Superintendent darauf, dass das Kirchengesetz in Teilen noch weiter gehe als das Strafrecht. Es sehe „sexualisierte Gewalt dann gegeben, wenn durch ein unerwünschtes sexuell bestimmtes Verhalten bezweckt und bewirkt wird, dass die Würde einer anderen Person verletzt wird“. Mit Worten und ohne Worte, mit und ohne Körperkontakt, schriftlich oder digital.
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Superintendent würdigt Anette Kurschus
Peter-Thomas Stuberg äußerte sich auch zum Rücktritt von Annette Kurschus. Und würdigte sie als „eine sehr geachtete Seelsorgerin, Pfarrerin und eine Ausnahmepredigerin mit großer Orientierungskraft“. Der „Segen ihres Wirkens“ sei nicht zu übersehen. Die Verbundenheit zu ihr und mit ihr halte der Kirchenkreis „unverändert aufrecht“. Der Superintendent: „Sie braucht jetzt Zuspruch und Gebet.“
Letzteres noch stärker zu bekräftigen, war eine der Forderungen, die in der Aussprache laut wurden. Annette Kurschus brauche „ein Wort der geschwisterlichen Solidarität“, hieß es aus den Reihen der Synodalen. Prof. Dr. Thomas Naumann von der Universität Siegen wünschte sich, das aus Siegen-Wittgenstein mehr laut würde als lediglich das Bekunden von Respekt.
Kurschus falsch beraten?
Dass die Theologin aus dem Siegerland binnen so kurzer Zeit „raus aus allen Ämtern“ gekommen sei, so der Hilchenbacher Pfarrer Herbert Scheckel, sei auch eine Anfrage an die Basisebene. War sie falsch beraten? Hätte der Umgang mit der Öffentlichkeit offensiver sein müssen? Wie künftig mit ähnlich gelagerten Fällen umgehen? Fragen, die Antworten suchen. Auf der Synode, aber auch darüber hinaus. Die Herausforderungen sind groß – am Ende auch angesichts von Austrittszahlen, Neubesetzungen, Kosten und Klimaneutralität. Themen, die bis zum Abend der Beratung harrten.
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