Kreuztal. Von Millionen Euro Steuereinnahmen bis zum Terminkalender des Bürgermeisters, von Heiraten bis Ausweis: Das Kreuztaler Rathaus ist erfinderisch.

Die gute Nachricht: „Das Geld arbeitet.“ Auf den Konten der Stadtverwaltung kommt Geld an, von der Überweisung zum Beispiel für ein Knöllchen bis zur fünf- oder sechsstelligen Summe, die aus Düsseldorf als Zuschuss zum Beispiel für den offenen Ganztag an den Grundschulen bewilligt worden ist. Kämmerer Michael Kass, der wie alle seine Kollegen in Südwestfalen vor schwarzem Bildschirm und totem Telefon sitzt, wirkt relativ entspannt, noch. Die Stadt Kreuztal bezahlt auch Rechnungen. Wenn sie denn vorliegen. Handwerker und Lieferanten, die sich auf den „digitalen Rechnungsworkflow“ eingelassen haben, schauen erst einmal in die Röhre. Sie sind aufgerufen, ihre Forderungen auf Papier auszudrucken und mit der Post noch einmal zu schicken.

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Der Ausfall der Behörden nach dem Cyber-Angriff auf die Südwestfalen-IT hat viele Facetten. Bei Michael Kass ist die wohl empfindlichste Stelle getroffen: Ohne Geld kann die Stadt gar nichts tun. Dass überhaupt Geld da ist, erfährt der Kämmerer nur noch über die Kontoauszüge, die er nun wieder in Papierform von den Geldinstituten bekommt. Aber wie es um die einzelnen Budgets bestellt ist, ob der Bauhof noch Geld für neue Schaufeln hat, die Kosten für die Friedhöfe davongaloppieren oder für die Jugendzentren noch ein paar Spiele angeschafft werden können, weiß er nicht. „Wir haben keine Zahlungsinformationen, wir können nichts zuordnen.“ Und somit auch nicht feststellen, wer gerade mit seinen Zahlungen an die Stadt im Verzug ist.

Wie kommt die Stadt Kreuztal an Grund- und Gewerbesteuern?

Wobei den Kämmerer der Kleinkram für zwei- oder dreistellige Beträge sowieso nicht interessieren muss. Viel kritischer sind die Termine, an denen die Stadt die Grundbesitzabgaben einzieht. Am 15. November werden Grund- und Gewerbesteuern fällig, da geht es um zweistellige Millionenbeträge. Die Gemeinde Burbach hat schon mitgeteilt, dass sie das Geld nicht abbuchen kann. In Kreuztal rechnet man damit, dass die ITler rechtzeitig auch hierfür eine Notlösung erfinden. „Sonst überweisen wir eben auch die Kreisumlage nicht“, meint Bürgermeister Walter Kiß. Ob er das ernst meint? Der Kreis kassiert eine Umlage von der Stadt, die fast der gesamten Gewerbesteuereinnahme entspricht. Normalerweise wird das vom Kreis quasi in Selbstbedienung abgebucht. Das geht nun auch nicht mehr.

Michael Kass hat jede Menge Papier auf dem Tisch. Vor anderthalb Wochen hat er – eher gewohnheitsmäßig – zuletzt Listen mit dem aktuellen Stand der Stadtfinanzen ausdruckt, die einen Überblick über die insgesamt 2000 verschiedenen internen Konten erlaubt. Immerhin. „Das ist irgendwo auch dem Alter geschuldet“, erklärt der Kämmerer, der für sein Vertrauen aufs Papier bestimmt schon einmal von jüngeren Kollegen belächelt worden ist. Als Michael Kass Ende der 1980er Jahre im Rathaus anfing, gab es gerade einmal Lochkarten, mit denen Grundsteuereinnahmen zur Verbuchung an die Kommunale Datenzentrale nach Siegen übertragen wurden. Eine Woche später kamen die Ausdrucke zurück. Mit der Post.

Die Wiederentdeckung des Faxgerätes im Kreuztaler Rathaus

Gern erzählt Michael Kass, wie sie ein längst ausrangiertes Faxgerät aus dem Depot geholt haben. Das sind Geräte, die bedrucktes Papier abtasten und über Telefonleitung an ein anderes Gerät übertragen, das den Inhalt wiederum auf Papier ausdruckt – sozusagen die E-Mail von gestern. „Da haben die jungen Kollegen Augen gemacht.“ Was aber nicht heißt, dass die nicht auch schnell umschalten können: „Die sind ausgesprochen kreativ.“ Formulare wurden entwickelt, eigene Excel-Dateien erstellt, damit neue Daten auf den mittlerweile wieder freigegebenen Notebooks gespeichert werden können, die allenfalls an einen Drucker angeschlossen werden dürfen, einige auch schon wieder ans Netz, aber keinesfalls an die gehackte SIT. Der Bürobote, den Kreuztal nie aus dem Stellenplan gestrichen hat, trägt nun ganz viel Papier zwischen den Büros hin und her. Die Druckerei, die auch nie abgeschafft wurde, läuft heiß. „Im Moment läuft man auch etwas mehr durchs Haus.“ Man sieht sich wieder persönlich, statt zu telefonieren oder E-Mails zu schreiben.

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Das Vorzimmer von Michael Kass ist leer, Sabine Sänger ist in Urlaub. Sie hat zum 40-jährigen Dienstjubiläum eine Siemag-Schreibmaschine geschenkt bekommen, die, mit Schmuckband verziert, vor allem zur Dekoration gedacht ist. Ihre Vorgängerinnen haben auf den mehrere Kilo schweren Geräten Briefe getippt. So weit ist es noch nicht. Viele aus der Verwaltung arbeiten jetzt zu Hause, schreiben Vorlagen für die Ausschüsse neu und die Dutzende Seiten langen Protokolle, damit die Kommunalpolitik weiterarbeiten und entscheiden kann. Hilfreich ist nun, dass ein paar Ratsmitglieder immer noch auf Vorlagen auf Papier bestehen – die werden nun eingesammelt und kopiert.

Die Siemag-Schreibmaschine - hier von Bürgermeister-Referentin Janine Wolski präsentiert - steht im Vorzimmer des Kämmerers: ein Geschenk zum Dienstjubiläum von Sekretärin Sabine Sänger.
Die Siemag-Schreibmaschine - hier von Bürgermeister-Referentin Janine Wolski präsentiert - steht im Vorzimmer des Kämmerers: ein Geschenk zum Dienstjubiläum von Sekretärin Sabine Sänger. © Steffen Schwab | Steffen Schwab

Haushaltsplan 2024: Auch in Kreuztal nach Cyberattacke in weiter Ferne

An die wichtigste Entscheidung, den Haushaltsplan für das nächste Jahr, ist allerdings nicht zu denken. Der Kämmerer wird zum Monatsende keinen Entwurf vorlegen können, die Ausschüsse werden weniger Zeit zur Vorberatung haben, wenn der Rat das Zahlenwerk noch planmäßig im März verabschieden soll. „Im Moment ist da keine wesentliche Dramatik drin“, sagt Michael Kass. Käme es zur Verzögerung, wären allerdings neue Investitionen blockiert.

Im Moment drücken die Menschen in Kreuztal eher alltägliche Fragen, bei denen das Rathaus sie nicht im Stich lassen will. Wer unbedingt einen neuen Personalausweis braucht, kann ihn trotzdem bekommen. Er bekommt dann eine „Ermächtigung“ in die Hand gedrückt, mit der er sich den Ausweis auch von einer anderen Kommune ausstellen lassen kann. Die nächsten Rathäuser, die nicht an der SIT hängen, sind in Kirchen und Gummersbach. „Man sollte aber vorher telefonieren“, empfiehlt Bürgermeister Walter Kiß – im kleinen Kirchen ächzen sie schon unter dem Ansturm aus dem großen Siegen-Wittgenstein.

Termine nun im „schönen schwarzen Büchlein“

Nicht nur der städtische Haushalt und die ganze Buchführung, nicht nur die ganze Kommunalpolitik, nicht nur die Personalakten des Rathauses sind nach dem Hacker-Angriff unerreichbar, sondern auch bereits vereinbarte Standesamtstermine – was für Brautpaare unangenehm werden könnte. Weg ist sogar der Kalender des Bürgermeisters. Vielmehr – er wäre weg, wenn er ihn nicht auf dem privaten Tablet gespeichert hätte. „Damit ich direkt morgens weiß, wo ich hin muss.“ Das hilft über die ersten Tage, während die Mitarbeiter ein Kalenderbuch besorgt haben, in das nun alle Bürgermeister-Termine von Hand eingetragen werden.

„Klasse, wie die ganze Mannschaft sich da rein hängt“, sagt Walter Kiß. Auf die Improvisationstalente der Kreuztaler Rathaus-Belegschaft er sichtlich stolz. Und irgendwie scheint er sich sogar zu freuen über das „schöne schwarze Büchlein“ mit einer Seite für jeden Tag. Wie Sabine Sänger über ihre Schreibmaschine. Und Michael Kass über seine Auszahlungsformulare, grün für die Stadt, blau fürs Wasserwerk. Weil sie wissen, dass es irgendwann wieder 2023 wird in der Verwaltung. „Die sagen nur nicht wann“, entnimmt Michael Kass den täglichen Meldungen der SIT.

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