Siegen. Auto anmelden, Bafög bekommen – ganz viel geht gerade nicht. Schritt für Schritt bringt die Kreisverwaltung die Dienstleistungen wieder ans Netz.

Eigentlich hätten ihre Teams sich in dieser Woche in der Kreisverwaltung weiter um Themen wie „Smart City“ gekümmert, die Digitalisierung von Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger, und die E-Akte weiterentwickelt, also die elektronische Bearbeitung von Verwaltungsvorgängen, ohne noch allzu oft den Drucker zu bemühen und allzu viel Papier zu beschriften. Es war gegen 1 Uhr am ganz frühen Montagmorgen, als der Alarm auch Deidre Burdy erreichte: Die Südwestfalen IT (SIT) wurde von Cyber-Kriminellen angegriffen, die Kommunalverwaltungen in ganz Südwestfalen und Teilen des Rheinlands wurden vom Netz genommen.

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Teams in der Kreisverwaltung waren vorbereitet

Was ihr in bei diesem Alarmruf durch den Kopf ging? „In dem Moment denkt man nicht“, sagt die Leiterin des Amtes für IT, Digitalisierung und Organisation. Die Teams in den Sachgebieten IT und Digitalisierung ziehen die Notfallpläne aus dem Schubladen, ihre Kolleginnen und Kollegen in den anderen Ämtern waren sensibilisiert für die Gefahren eines möglichen Cyberangriffs, dank vorangegangener Schulungen und der Unterstützung der Digital Scouts, die jedes Amt benannt hat und die wichtige Kontaktleute für die IT sind. „Das hilft uns jetzt“, stellt Deidre Burdy fest, „wir müssen nicht mehr lange und tiefgehend erklären.“

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Improvisation mit Tablets und Handys

Die Amtsleiterin kommt gerade aus dem Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen zurück. Konzentriert sei die Stimmung, sagt Deidre Burdy, deren Schreibtisch so aussieht wie alle anderen im Kreishaus: schwarzer Bildschirm, totes Telefon. Sie hat sich ein Tablet von zu Hause mitgebracht, daneben liegt das Mobiltelefon als Hotspot. Daneben sind gerade WLAN-Spots eingerichtet worden. Der Kreis hat bei verschiedenen Anbietern gebucht, „um die Netze nicht zu überlasten.“

Am Rand des Tischs: ein Apfel, Schokoriegel, Nussmischungen, Nervennahrung im weitesten Sinne, zu der immer wieder mal Nachschub vorbeigebracht wird. Nicht, dass ITler nicht aus der Ruhe zu bringen wären, schon gar nicht bei so einem Super-GAU. Aber grundsätzlich, so stellt Deidre Burdy fest, bleibt die Stimmung freundlich. Den Nervenzusammenbruch gibt es in der Comedy, nicht hier. „Die Leute sollen alle gesund bleiben.“ Deshalb ist auch an Tagen wie diesen immer irgendwann Feierabend.

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Keine Autozulassung, keine Baugenehmigung

Draußen tobt das Leben. Autohändler und Fahrzeughalter, die ihre Autos anmelden möchten. Bauwillige, die auf eine Baugenehmigung warten. Anbieter von ausgeschriebenen Waren und Dienstleistungen, die auf den Zuschlag warten. Land- oder Forstwirte, die eine Genehmigung für eine Weihnachtsbaumkultur brauchen. Oder für einen Viehunterstand. Studierende, die erstmals Bafög beantragt haben und auf die erste Auszahlung warten. Und und und... Die Liste von all dem, was nicht geht, ist lang. Dass es die Liste mit dem, was geht und was nicht geht, aber überhaupt gibt, ist eine Gemeinschaftsleistung aller Ämter, technisch umgesetzt von der IT.“ Schon am Donnerstag ging die Not-Homepage kreissiwi.de ans Netz.

Cyberattacke – Update

Die Zulassungsstelle des Kreises Siegen-Wittgenstein teilt mit: Kurzzeitkennzeichen und Ausfuhrkennzeichen für den Kreis Siegen-Wittgenstein können in dringenden Fällen bei der Verbandsgemeinde Kirchen beantragt werden. Abmeldungen von Fahrzeugen sind bundesweit möglich.

Bei der Stadtbibliothek Siegen können keine Medien ausgeliehen oder zurückgegeben, sondern nur an Ort und Stelle genutzt werden – anders als bei der Stadtbibliothek Kreuztal, die weiter ausleiht. In der Bücherei Wilnsdorf sind dagegen nur Rückgaben möglich.

Die Stadt Hilchenbach richtet die Not-Homepage www.hilchenbach.de ein. Bürgerinnen und Bürger finden dort vorübergehend alle wichtigen Informationen wie die verfügbaren Dienstleistungen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Das Rathaus ist wieder zu den gewohnten Zeiten geöffnet. Notfall-Hotline: 0176 1189 6591 und 0176 1189 6594

Die Stadt Netphen öffnet ihr Rathaus ab Montag wieder.

Die Gemeinde Neunkirchen ist wieder per Mail erreichbar: rathaus@gemeinde-neunkirchen.de.

Der Donnerstag, erinnert Deidre Burdy, war gerade der dritte Werktag nach dem Cyber-Angriff. In der kurzen Zeit wurde Bestandsaufnahme gemacht: Was wird gebraucht, was ist verfügbar? Die ausgemusterten, durch Notebooks ersetzte Desktop-PCs waren zum Glück noch da, ein paar alte Laptops auch noch, insgesamt rund 150 Geräte. „Die machen wir wieder flott.“ Außerdem werden E-Mailadressen geschaffen und Mobilfunknummern geschaltet, um wenigstens einen Teil der rund 1200 Kreis-Bediensteten wieder erreichbar zu machen. „Wir arbeiten mit Hochdruck.“ Mit dem Ziel, dass Dienstleistungen wieder angeboten werden können.

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Daten bleiben vorerst weiter unerreichbar

Was die rund 20 Leute im IT-Team des Kreises nicht können: Die Daten herbeischaffen, die der Kreis – wie alle Städte und Gemeinden auch – bei der SIT speichern lässt. Darunter sind viele Dateien, die mit Geld zu tun haben, sodass die Stadtverwaltungen ihre Lieferanten derzeit bitten, Rechnungen wieder per Post zu schicken. In den nächsten Wochen sollen eigentlich die Ausschüsse und Räte in den Kommunen die Haushaltspläne für das nächste Jahr beschließen. Die Stunde der Druck- und Kopiergeräte schlägt – in Hilchenbach hat Kämmerer Christoph Ermert ein paar ausgedruckte Exemplare, die sich vervielfältigen lassen. Seinem Siegener Kollegen Wolfgang Cavelius nützt der Drucker dagegen nichts; er steht gerade mit leeren Händen da. Die Folgen? Womöglich Investitionen, die nicht getätigt, Zuschüsse an Vereine, die nicht ausgezahlt werden können?

Kein Blick in die Zukunft

Zu Fragen, die in die Zukunft gerichtet sind, hält Deidre Burdy sich bedeckt: „Spekulation“, sagt sie, wäre das. Zumal derzeit niemand weiß, wie groß der Schaden ist, den die Cyber-Erpresser anrichten, was repariert werden kann und was womöglich unwiederbringlich verloren ist. „Wir müssen dem IT-Dienstleister jetzt Raum geben.“ Und währenddessen Provisorien schaffen, für die dringlichsten Anliegen zuerst. So, wie die Kolleginnen und Kollegen in den elf Rathäusern des Kreises auch, bis herunter zum Not-Kontakt zum Müllabfuhrunternehmen, wenn die Abfalltonne wieder einmal ungeleert am Straßenrand stehen geblieben ist.

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Der Tag wird kommen, an dem die Kommunalverwaltungen wieder ohne Einschränkung arbeiten können. Wann, weiß niemand. Aber dass die Technologie und damit auch das Serviceangebot dann einen riesigen Sprung nach vorn gemacht haben werden, ist nicht auszuschließen – Cyberangriffs-Geschädigte anderer Firmen und Behörden wissen das. „Es tut gut, auch positive Dinge zu sehen“, weiß Deirdre Burdy, „daraus ziehen wir auch Kraft.“

Stadtverwaltung Siegen zieht Bilanz der ersten Woche

„Mindestens drei Mal täglich“ tagt unter Leitung von Stadtbaurat Henrik Schuman der Stab für außergewöhnliche Ereignisse (SAE) bei der Siegener Stadtverwaltung, heißt es in einer ersten Bilanz aus dem Rathaus. Ziel: die bürgernahen Dienstleistungen sowie eine Erreichbarkeit der Stadtverwaltung wiederherzustellen.

Bereits am Dienstagabend konnten die ersten Erfolge vermeldet werden: die Aktivierung einer Telefonzentrale ab Donnerstag, die Veröffentlichung einer Notfall-Homepage (www.siegen-stadt.de), auf der die wichtigsten Infos und Updates zusammengestellt werden, sowie eine „Positiv-Liste“ mit über 70 möglichen Dienstleistungen unter anderem in den Bereichen Bürgerbüro, Standesamt, Soziale Leistungen und Kultur.

Seit Freitag ist auf der Notfall-Homepage außerdem ein FAQ („Frequently Asked Questions“, häufig gestellte Fragen und Antworten) zu den Themen Wohngeldstelle, Fachstelle Wohnen und Wohnberechtigungsschein/Wohnbauförderung zu finden.

100 neue Telefonnummern

Auch der Feiertag am Mittwoch, 1. November, sowie der darauffolgende Donnerstag wurden genutzt, um eine geeignete Firma zu finden, mit der Parallelstrukturen aufgebaut werden können. „Konkret heißt das: Wir können nun nach und nach 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit E-Mail-Adressen und Rufnummern ausstatten“, erklärt SAE-Leiter Henrik Schumann. Bürgerinnen und Bürger können sich dadurch in dringenden Fällen zeitnah wieder an Ansprechpartnerinnen und -partner wenden.

Wann die Stadtverwaltung wieder vollumfänglich einsatzfähig sein wird, könne man zu aktuellem Zeitpunkt noch nicht sagen. „Sicher ist jedoch: Der Stab für außergewöhnliche Ereignisse arbeitet weiterhin mit Hochdruck daran, diesem Ziel näher zu kommen“, heißt es in der Mitteilung. Über Updates informiert die Stadtverwaltung über die eingerichtete Notfall-Homepage sowie über die städtischen Social-Media-Kanäle Facebook, Instagram und X.

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